Wer Ägypten assoziiert, denkt zuerst an die Pyramiden als bekannteste Wahrzeichen einer Kultur, die uns eine enorme Fülle von Götterbildern, Bauten und Alltagsgegenständen hinterlassen hat. Historisch greifbar sind allerdings "nur" rund 4.500 Jahre, eine für das menschliche Geistesleben dennoch kaum erfaßbare Zeitspanne, wenn man sich vergegenwärtigt, daß "unsere" technisch-patriarchale Kultur seit Erfindung der Dampfmaschine gerade einmal 215 Jahre überstanden hat.
Wir kennen heute nur Ausschnitte jener spirituellen und wissenschaftlichen Kenntnisse, die in dieser langen Zeit vergleichsweise ungestörter spiritueller Entwicklung erarbeitet wurden. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich viele westliche Esoteriker, ebenso wie die jährlich in das Nilland einströmenden zigtausenden Touristen ihr Interesse auf die Pyramiden konzentrieren, deren Formen, ungeheure Ausmaße und die noch nicht hinreichend geklärte Bedeutung in jeder Hinsicht eine Menge von Rätseln bereit halten.1
Viel weniger im Fokus des Betrachters liegen die für ihr Alter hervorragend erhaltenen Tempelanlagen im Süden des Nillandes, die eine unüberschaubare Fülle an Reliefs aufweisen. Diese in Stein gehauenen Bibliotheken sind bis heute noch nicht vollständig dokumentiert und übersetzt.2 Während jede gut sortierte Esoterikbuchhandlung stapelweise Bücher mit mehr oder minder wahrscheinlichen Mutmaßungen über die Pyramiden führt, findet der Interessierte kaum etwas zu den Tempelanlagen, deren Texte genaue Hinweise zu Ritualen und Bedeutung geben.
Doch selbst flüchtige Besucher werden sofort gefangen genommen durch das mystische Dunkel der Kulträume, den geheimnisvollen Reliefs an den Wänden und der enormen Größe der Säulensäle. Wer das Glück hat, mit einem nur einigermaßen kompetenten Führer die Tempel zu durchwandern, wird vielleicht auch etwas vom Weltbild seiner Erbauer erahnen können. Allgegenwärtig sind Papyrus und Lotus, die Symbole von Ober- und Unterägypten. Die Reliefs zeigen Ritualszenen, die genaue Angaben zur Verehrung der Gottheiten und den Ablauf der Rituale wiedergeben. An den Decken befinden sich Sonne, Mond und gelbe Sterne auf blauem Hintergrund und die Säulenschäfte zeigen stilisierte Abbildungen der Vegetation. Jeder spürt sofort etwas von der steigenden spirituellen Kraft, wenn er die Säle durchquert und im Allerheiligsten angelangt ist. Wer dann noch im Basar der nächsten Stadt eine kleine Götterfigur erwirbt, nimmt neben seinen vielleicht unbestimmten Eindrücken des Erhabenen auch ein Stück jener großen magisch-religiösen Tradition auf, die in vielen Bräuchen und Traditionen der christlichen und islamischen Welt weiterleben. Wer ahnt schon, daß der Ehering ebenso wie das kultische Brotbrechen auf ägyptische Wurzeln zurückgehen, oder das die Astrologie im Nilland wichtige Impulse erhielt? Selbst die christliche Weihnachtsgeschichte weist erstaunliche Parallelen zur Geburt des jungen Horus auf.
Beim genauen Hinschauen erschließt sich ein ägyptischer Tempel als Stein gewordenes Abbild des Kosmos. Vielfach nur in Resten erhalten, umgeben gewaltige Mauern aus Nilschlammziegeln das Areal. Die Steine wurden in Wellen angeordnet, und verkörpern so den Urozean, aus der die Insel des ersten Mals, der Tempel als Sinnbild der Welt in ihrer Entstehung, auftaucht. In diesem Areal lagen die Häuser der Priesterschaft, Werkstätten, Kapellen, Prozessionssationen und heilige Seen, an denen sich Priester und Gläubige reinigen und meditieren konnten. Ausgedehnte Tempelstädte bestanden u. a. auf der Insel Philae, in Karnak, beim Ramesseum und in Medinet Habu bei Luxor, sowie in Abydos.
Prächtige Blumenbeete und künstliche Teiche verschönten Göttern und Menschen den Aufenthalt im Tempelbezirk und verdeutlichten die hier anwesende Schöpferkraft. Wasser spielte seit jeher eine große Rolle, war es doch Teil jener Urkraft, die das Wachstum auf Erden ermöglichte und die der Gottheit als Dank gespendet wurde. In diesem Sinne ist die göttliche Potenz in jedem Tropfen gegenwärtig. Mächtige Turmbauten, sogenannte Pylone, grenzen den heiligen Ort gegenüber weltlichen Bereich ab. Sie verkörpern Isis und Nephtys, die als mächtige Schutzgöttinnen den Tempel gegenüber unlauteren Kräften und Mächten bewahren. Durch magische Inschriften und Weihehandlungen wurden Missetäter der Zugang erschwert. Darstellungen des Königs, der seine Feinde "am Schopfe" packt und erschlägt, symbolisieren die Kraft der weltlichen Gerechtigkeit, die einen möglichen Frevel rächen wird. Kleinere Tempelbauten, die Gottheiten geweiht sind, die in Beziehung zur Hauptgottheit standen, umgeben den Haupttempel.
Der Baukörper diente als steinerne Hülle für die dort abgehaltenen Rituale. Das jeden Tag durchgeführte Morgenritual zeigte wesentliche Aspekte der Bedeutung auf, die der "lebende" Tempel hatte. Dessen wichtigste Funktion war die Begegnung des Menschen mit der sich offenbarenden Gottheit. Die Reliefs zeigen die heiligen Handlungen, die der König stellvertretend als höchster Priester durchführte, aber in der Praxis durch die Priesterschaft übernommen wurden. In der Abfolge der Säle und Höfe zwischen Pylonen und Allerheiligstem offenbart sich der Prozeß der Begegnung mit dem Göttlichen. Die Anrufung der Gottheit, die Opferung von Wasser, Gaben und Räucherwerk, die Bekleidung und Pflege der Statuen waren Bestandteile des täglichen Rituals. Häufig sieht man die Ritualszene "Stützen des Himmels" zwischen Himmel und Erde des Tempelkosmos. Hierin wird die herausragende Bedeutung des Tempels erkennbar, denn hier wird in Kulthandlungen der Mensch zum Verwirklicher der göttlichen Ordnung.
Mit der Öffnung der am Vorabend versiegelten Türen trat Licht in die Tempelräume und es wurde ein Prozeß begonnen, der das göttliche, vitale und kreative Element in einen dynamischen Bezug zum Menschen setzte. Jeder Tag, der durch die energetisierende Kraft der Sonne neu begann, ließ auch die Welt neu entstehen, erweckte sie aus der Dunkelheit und Formlosigkeit und realisierte ihr Sein. In ihren verschiedenen Wirkaspekten gaben sich die Gottheiten zu erkennen, die je nach lokaler Tradition unterschiedlich ausgedeutet wurden. Die auf den ersten Blick verwirrende Fülle der Gottheiten relativiert sich, wenn berücksichtigt wird, daß es sich um unterschiedliche, Sein gewordene Aspekte der Urkraft handelt. In diesem Bewußtsein können die verschiedenen Verkörperungen der göttlichen Kraft als erkennbare Wahrheiten betrachtet werden. So kommt in einigen Reliefs des Tempels von Edfu der Falkengott Horus sich selbst in einer anderen Verkörperung zu Hilfe, wenn es darum geht, den Wiedersacher Seth zu besiegen.
Die Abfolge von Höfen und Sälen zwischen Pylonen und Allerheiligstem wurde betont durch hohe Flügeltüren, die jeden Abschnitt auf dem Weg des Menschen zum Göttlichem einen besonderen Akzent verliehen. Dieser Weg wird charakterisiert durch das Hinaufsteigen des Menschen zum Göttlichen, spürbar durch das Ansteigen des Fußbodens und parallel durch die Herabkunft des Göttlichen zum Menschen, plastisch wiedergegeben durch die sinkende Deckenhöhe. Je nach Ausbildung und Rang wurden Priesterinnen und Priestern Dienste übertragen. Der Bereich des Allerheiligsten als Wohnstätte der Götter durfte nur durch die ranghöchste Priesterschaft betreten werden. Hingegen stand der große Eingangshof hinter den Pylonen Pilgern und Besuchern offen, wenn im Tempel eines der rituellen Feste begangen wurde. Dennoch bestand keine strikte Scheidung zwischen Priesterschaft und Gläubigen, denn die unteren Priesterämter wurden nur auf bestimmte Zeit ausgeübt. Danach kehrten die Betreffenden in ihr Alltagsleben zurück. So konnten spirituelle Erfahrungen durch eine Vielzahl von Menschen erlebt werden. Während der Zeit des Tempeldienstes erfolgte die Versorgung mit Naturalien, die der Tempel als Wirtschaftseinheit erhielt und zumeist auf Stiftungen zurückgingen.
Fast gänzlich unversehrt hat der Tempel des Horus in Edfu die Zeiten überstanden. Er gehört zu den spätzeitlichen Tempelanlagen, deren Architektur sich aus dem Kanon jahrtausendealter Baukunst entwickelt hat. Die Funktionen der Räume lassen sich durch die erhaltenen Inschriften zweifelsfrei feststellen. Nach Durchschreiten der mächtigen Eingangspylone wird der erste Tempelhof ("Hof der Menge") erreicht. Hier versammelten sich die Gläubigen und Pilger anläßlich der Feste. Es schließt sich daran die äußere Säulenhalle an, deren nördlicher Teil den Gottheiten von Ober- und der südliche den Gottheiten von Unterägypten gewidmet ist. Hier befindet sich auch das Bücherhaus, die Tempelbibliothek, die Handbücher für den täglichen Kult und zur Durchführung der Feste ebenso enthielt, wie Sammlungen magischer Sprüche, Rezepte für Salben und Räucherungen, astronomische Betrachtungen, Anweisungen für die Beschriftung der Tempelwand und vieles mehr.
An die nun folgende innere Säulenhalle ("Stätte des Lustwandelns von Re und Horus") schließen sich die Funktionsräume für die Durchführung der Rituale an. So befindet sich hier eine Vorratskammer für das rituellen Zwecken dienende Wasser, das Laboratorium, in dem Räucherungen und Salben hergestellt wurden (zahlreiche Rezepte sind durch die Texte an den Wänden erhalten), ein Raum für die Vorbereitung der Speiseopfer und eine von mehreren "Schatzkammern", in denen das Kultgerät untergebracht war. Der Weg zum Göttlichen führt nun zur Opfertischhalle, von der aus Treppenhäuser auf das Dach führen. Dort wurden die Götterbilder mit Hilfe der Sonnenenergie "magisch aufgeladen". Im Treppenhaus zeigen Reliefs Prozessionen aus Priestern, die mit Kultgerät und Götterstatuen versehen, zum Dach schreiten.
Das kultische Zentrum wird eingenommen durch das Sanktuar der Hauptgottheit, in Edfu des Horus, der als "hohe Stätte" oder "hoher Thron des Buntgefiederten" bezeichnet wird. Hier stand das Hauptkultbild und die rituelle Barke der Gottheit. Von diesem "Herz" des Tempels berichtet eine Inschrift: "Es ist unzugänglicher, als was im Himmel ist, verhüllter, als die Dinge der Unterwelt, verborgener als die Bewohner des Urwassers." Das Sanktuar umgeben Kapellen der "Gastgötter", die als symbolische "Neunheit" (in Anlehnung an den Schöpfermythos von On-Heliopolis), stellvertretend für die Gesamtheit der ägyptischen Götter stehen.
In Edfu umgeben eigene Kultbereiche von Hathor, Chons, Mehit, Osiris und Min das Sanktuar der Hauptgottheit. Die auf der Außenfläche der Umfassungsmauern erhaltene Beschreibung des Raumes "Behedet" (Titel des Horus) liest sich beispielsweise wie folgt: "Der Raum Behedet liegt zur Linken (des Sanktuars) und enthält die Abbilder der Göttin Mehit und der Götterneunheit, welche über Osiris wachen. Der Gott Schu ist dort als Nordwind, um sich mit seinen (des Osiris) Nasenlöchern zu verbinden, wie es seine Aufgabe ist im Horizont der Ewigkeit, zusammen mit der Göttin Tefnut, welche Feuersglut ist, um seine (des Osiris) Widersacher zu verbrennen, wie sie es in Areq-heh (Flurname) tut, wobei sie die Göttin Menet ist, das Auge des Re mit der furchterregenden Pupille, (und zugleich) die Göttin Sachmet, die Große, die Herrin aller Sachmetgöttinnen."3 So konnten durch die Sinnzusammenhänge der gefeierten Rituale in den einzelnen Kapellen eine Vielzahl göttlicher Kräfte erfahren werden.
Als Stein gewordene Zeugen einer spirituell herausragenden Kultur bieten die ägyptischen Tempel mit ihren Inschriften und ihrer Symbolik viele Anregungen, um die Verbindung zu den Naturkräften aufzunehmen, die sich in den Gottheiten offenbaren. Leider ist ein Anknüpfen an die altehrwürdige Überlieferung der Kultpraxis in Ägypten heute noch nicht möglich, dennoch sind viele Originalquellen zugänglich und der Besucher der Tempelanlagen kann vor Ort manch bemerkenswerte spirituelle Erfahrung machen. Keine andere "alte Kultur" übt eine solche Faszination auf Museums- und Ausstellungsbesucher aus. Keine andere Kultur der westlichen Hemisphäre hat eine solche Fülle von naturmagischen Überlieferungen hinterlassen, die in die spirituellen Traditionen eingeflossen ist.4 Mit der Verbreitung der Funde in die großen Museen der Welt ist die ägyptische Kultur ein Weltkulturerbe geworden.5
1 Eine vergnügliche Darstellung der Wirkung Ägyptens auf die Esoterik bietet Erik Hornung, Das esoterische Ägypten, München 1999
2 Eine gute Übersicht bietet Dieter Arnold, Die Tempel Ägyptens, Zürich 1992
3 zit. nach: Treffpunkt der Götter, Inschriften aus dem Tempel des Horus von Edfu, eingeleitet und übersetzt von Dieter Kurth, Düsseldorf 1998, S. 75
4 Kaum ein anderes Quellenwerk hat die okkulte Tradition so beeinflußt wie das "Buch vom Herausgehen am Tage", das fälschlich so bezeichnete "Totenbuch der Ägypter".
5 Ägyptische Sammlungen im deutschsprachigen Raum finden sich u. a. in Basel, Berlin, Bonn, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Hildesheim, Leipzig, München, Wien und Würzburg. Die Dresdener Sammlung ist leider nicht zugänglich.
© 2001 Erik Natter. Erstveröffentlichung im Magazin "Hinkelstein".