Priesterin: Mächtige Sonnenkatze, weise Sphinx Tefnut, ich rufe Dich! Laß uns teilhaben an dem Sonnenfeuer, das Du bewachst, wir bitten Dich, pflanze das Feuer des Lebens in unsere erkalteten Herzen!
Orakel der Tefnut: Müde seid ihr, erkaltet eure Herzen, in der Zeit, in
der ihr lebt. Und gleichzeitig fürchtet ihr mich, die mächtige Löwin, haltet
meinen glühenden Blick für die Strafe und Vergeltung, die euch gerechterweise
vernichten müßte. Denn in den Tiefen eurer Seele, in denen noch der
unverfälschte Lebensfunken strahlt, wißt ihr genau um die Verfehlungen, die
ihr an Eurem Selbst und der Umwelt begangen habt, Gleichgültigkeit,
Selbstherrlichkeit und Rücksichtslosigkeit. Also flieht ihr mich und straft
euch
damit doch nur selbst.
Denn komme ich nicht auch in Gestalt der Sekhmet, der Heilerin, und Bastet,
der liebenden Katzenmutter zu euch?
Ich bewahre und beschütze die Flamme des Lebens in mir. Flieht ihr mich und
meinen Gefährten Schu, so flieht ihr das Leben, nur um eures eigen schlechten
Gewissens willen! Ihr lauft in die Kälte und Einsamkeit eurer
technisch-wissenschaftlichen Kultur, die euch aber immer nur die halbe
Wahrheit zeigen kann!
Erkennt eure Unwissenheit! Denn auch die Jungen der Löwin sind tolpatschig und
müssen lernen, von der Löwenmutter angeleitet werden. Auch sie verlaufen sich
in der Steppe und rufen abends hungrig nach der Mutter, die nicht eher ruhen
wird, bis sie alle Kinder eingesammelt, alle Wunden geleckt, alle Tränen
getröstet hat. Ihr seid nie verloren, wenn euer Herz sich nach meiner Wärme
sehnt und ihr mich ruft. Aber rufen müßt ihr mich, denn als Kinder der Löwin
habt ihr meinen starken und freien Willen geerbt.
Und niemals werde ich gegen euren Willen zu euch kommen.
Priester: Große Tefnut, Du und Dein Gemahl Schu, ihr erschuft die Zeit, als Schu am Anfang der Zeiten Himmel und Erde voneinander trennte. Dies war die erste Bewegung, das erste wirkliche Geschehen in der spirituellen Welt. Und noch immer regiert die Sonnenlöwin die Zeit.
Priesterin: Das ist wahr, Gefährte, schreibt doch schon Apuleius von Medauros, wie sich ihm die Große Göttin mit den Worten offenbarte: "Ich habe Macht über die Schicksale". Sie kann die Fäden der Zeit neu weben, wann immer sie will.
Teilnehmer: Dann kann sie Dinge ungeschehen machen, Ungerechtigkeiten, Schmerz, Verfehlungen?
Priester: Das kann sie, Gefährte. Hat sie nicht einst zu unserer in tiefer Trauer befindlichen Gefährtin Diane die Worte gesprochen: "Beruhige Dich. Es gibt Dinge, die nie geschehen sein werden"?
Priesterin: Wahrhaftig, so ist es. Und darum wollen auch wir die Große
Tefnut darum bitten, Dinge aus dem Gewebe der Zeit zu herauszutrennen, die
unsere
Seelen schmerzen. Hat nicht jeder von uns schon Dinge erlebt, von denen er
oder sie sich wünscht, sie wären nie geschehen? Dinge gesagt, die er oder sie
später bereut hat? Dinge unterlassen, die besser getan worden wären? Dinge
ungerechterweise erdulden müssen, ohne sich dagegen wehren zu können? Laßt uns
das Sonnenfeuer Tefnuts entzünden, welches alles das bereinigen wird!
(zündet die Räucherkohlenstücke in der Schale an. Wenn das Ritual im Freien
stattfindet, wäre es ideal, das mit den durch eine Lupe gebündelten
Sonnenstrahlen zu tun)
Priester: Gefährtinnen und Gefährten, laßt uns auf die kleinen Zettel eine Sache aufschreiben, die unsere Seele bedrückt oder schmerzt, und von der wir die Göttin der Schicksalsfäden bitten wollen, sie für uns ungeschehen zu machen!
(Pause, in der jeder(r) genug Zeit und Gelegenheit haben soll, eine solche private Bitte zu formulieren)
Priesterin: Nun, so laßt uns hintreten vor das Antlitz der Göttin, um unser Anliegen vorzutragen!
(Alle lassen sich in bequemer Meditationshaltung nieder)
Wir schließen die Augen und entspannen uns. Vor uns nehmen wir das Zeichen des
Ankh wahr, des ägyptischen Lebensschlüssels der Isis. Wir gehen langsam darauf
zu, sehen farbige Schleier in der Schlaufe wehen. Uns umweht das Rot der
körperlichen Kräftigung, und intensiv spüren wir das satte Grün der Gesundheit
durch uns strömen, ebenso wie das Blau der Spiritualität und das Violett der
Weisheit.
Du stehst in einer Wüste. Es ist sehr warm, aber noch nicht unangenehm heiß,
und über Dir steht die Sonne strahlend im wolkenlosen Himmel. Um Dich herum
sind Dünen, der Sand ist fein und weich, vielleicht spürst Du ihn an Deinen
Füßen.
Eine Spur ist vor Dir im Sand zu sehen. Ich möchte Dich einladen, dieser Spur
zu folgen, zu sehen, wo sie hinführt. Die Fußabdrücke sind undeutlich in dem
weichen Sand. Wer sie wohl gemacht hat?
Als Du auf Deiner Wanderung eine Düne erklimmst, siehst Du, daß die Spur auf
eine riesige Sphinx mitten in der Wüste zuläuft. Die Wanderung dorthin dauert
eine Weile, und Du bemerkst auf dem Weg, daß im Sand versteckt viele kleine
Lebewesen der Entdeckung harren. Die Wüste ist nicht tot. Was triffst Du alles
auf Deinem Weg?
Schließlich erreichst Du die Sphinx. Die Sonne ist heißer geworden, und du
trittst bis direkt an die riesengroße Statue heran, findest wie von selbst den
Weg zwischen ihre Vorderpfoten. Fast scheint es, sie lächele verschmitzt zu
Dir herunter, und Du bemerkst, daß das Licht hier so hell ist, daß es durch
Deinen Körper hindurchscheint. Du kannst in Dein eigenes Inneres blicken, wie
auf einem Röntgenbild. Was entdeckst Du alles in Dir selbst im weißen Licht
der Sphinx-Sonne?
Du hast noch gar nicht alles an Dir selbst untersucht, da bemerkst Du, daß
zwei Männer aus der Wüste zu Dir kommen. Schon von weitem winken sie Dir
freundlich zu, und Du erkennst, daß es Zwillingsbrüder sind, von denen der
eine eine Krone auf dem Kopf und eine Harfe in der Hand, der andere eine Waffe
an seiner Seite trägt. Es sind Osiris und Seth, die ungleichen Brüder, der
milde Richter und der Revolutionär, die zu Dir zwischen die Pfoten der Sphinx
treten. Du erkennst, daß beide zusammengehören, beide in Dein Inneres sehen
können, beide eine Botschaft für Dich haben, und daß Du Dich nicht für einen
von beiden entscheiden mußt. Du hälst den beiden den kleinen Zettel, den Du in
der Hand trägst, hin.
Es ist Zeit, zurückzukehren. Deinen Zettel hälst Du wieder in der Hand, und
Osiris und Seth verabschieden sich freundlich von Dir. Du trittst zwischen den
Pfoten der Sphinx hervor in die Wüste und drehst Dich zum Abschied noch einmal
um. Die Sphinx lächelt jetzt ganz sanft.
Auf dem Rückweg durch die Dünen bemerkst Du vielleicht, daß das Licht der
Sonne jetzt nicht mehr so stark ist und Dich nicht länger durchleuchtet. Du
folgst dem Pfad und triffst dabei manche der kleinen Lebewesen wieder, denen
Du auch schon auf dem Hinweg begegnet bist.
Ganz sicher, wie von selbst führt Dich der Pfad zurück zu dem Ankh, und auf
der letzten Sanddüne davor wirfst Du noch einen letzten Blick zurück auf die
riesige Sphinx fern in der Wüste, ehe Du auf das Ankh zutrittst.
Wieder wehen die Schleier in der Schlaufe, Du spürst das Violett der Weisheit,
gehst durch das Blau der Intuition, badest genußvoll im Grün der Gesundheit
und schließlich im Rot der neu gewonnenen Kraft.
Wir gelangen wieder ins Hier und Jetzt, fühlen uns von unserer Reise erfrischt
und gestärkt und erinnern uns deutlich an alle Geschehnisse bei der Sphinx.
Priester: So wollen wir nicht länger bei uns tragen, was durch das unwiderstehliche Feuer der Sonne ungeschehen gemacht worden ist.
(Ein Teilnehmer nach dem anderen tritt vor und wirft seinen kleinen Zettel in die Feuerschale mit den inzwischen gut durchgeglühten Holzkohlen)
Priesterin: Was schmerzte, ist von uns genommen worden. Was bedrückte, ist nur mehr ein böser Traum. Es ist nicht mehr!
Alle Teilnehmer: Es ist nicht mehr!
Priesterin: Laßt uns nun der Göttin für ihre Güte danken, indem wir alle Lebewesen der Welt an unserem Glück und unserer Erleichterung teilhaben lassen!
(heilende Energien werden in alle Richtungen ausgesandt)
Priester: Ich danke Dir, große Tefnut, Sonnenkatze, für die Segnungen, die Du uns und allen Wesen der Welt zuteil werden läßt.
Alle Teilnehmer: So möge es sein!
© 2001 Diane Neisius