Eine
Gedankenskizze
Lucius
Merlin
Vorbemerkung:
Längere Zeit habe ich gezögert, einen Beitrag wie den vorliegenden
zu schreiben. Darum sind diese Ausführungen erst nach dem Erscheinen
meines Buches "Begegnung mit der Göttin" (1.Aufl. 2001; 2. Aufl. 2002,
jeweils im Selbstverlag) entstanden. Ich bin mir bewusst, dass dieses Thema
eigentlich nur in hymnischer und metaphernreicher Sprache oder in archetypischen
Bildsymbolen angegangen werden kann.(1) Auch klingt mir das Wort von Lao
Tse in den Ohren: "Wer redet, weiß nicht, wer weiß, redet nicht",
das der große chinesische Philosoph über die letzten Wahrheiten
gesagt haben soll. Wenn ich nun dennoch einen eher nüchternen Abriss
verfasse, der eigentlich Thema eines Buches sein müsste, dann habe
ich vor allem zwei Gruppen von Fragestellern vor Augen: Jene, die eine
stärker strukturierte Orientierung suchen und dann die redlichen Skeptiker/innen,
die die Barrieren der Selbstgerechtigkeit bereits überwunden haben.
Wer allerdings Vorurteile und liebgewordene Denkmuster nicht aufgeben will,
für die/den wird auch der nachfolgende Text nicht hilfreich sein.
Zahlreiche Hinweise auf christliche Positionen dienen nicht der Polemik,
sie sollen vielmehr den Blick für die Konturen der Göttinspiritualität
schärfen. Der nachfolgende Text versucht, das allen Richtungen Gemeinsame
herauszuarbeiten; wo das nicht möglich war, wird auf unterschiedliche
Auffassungen hingewiesen. Es ist durchaus möglich, dass durch die
Mitgliedschaft des Verfassers in der "Fellowship of Isis" bestimmte Sichtweisen
besonders hervortreten.
Immer
mehr Menschen entdecken die
Göttin als spirituelles Zentrum
ihres Lebens, können sich aber oftmals noch nicht vollständig
von althergebrachten Denkkategorien lösen. So entsteht gelegentlich
ein Zwiespalt zwischen gefühlsmäßiger Sicherheit und mentaler
Klarheit, der das Weiterschreiten auf dem "Spiralpfad der Göttin"
(2) behindern kann. Aber auch für außen stehende Betrachter/innen
ergeben sich zahlreiche Fragen.
Die
über viele Jahrhunderte währende religiöse Sozialisierung
durch das Christentum hat tiefe Spuren in unsere kollektive abendländische
Mentalität eingegraben. Sowohl die vorrationale Bilderwelt, die uns
ganz besonders als Kinder tief beeinflusst hat, als auch die Begriffswelt
sind weitgehend christlich "vereinnahmt". Für letztere gilt, dass
sie - mindestens auf der dogmatischen Ebene - das Verständnis für
Religionen vergangener Zeiten oder anderer Kulturräume eher behindert
als erleichtert.
Ich
spreche hier von Spiritualität, nicht von Religion.
In den westlichen Gesellschaften (einschl. Islam) ist seit 1000 - 1500
Jahren die lebendige Tradition eines Göttin-Kultes mit Tempeln, Riten,
Prozessionen und Einweihungen abgebrochen, wenngleich diese auf den inneren
Ebenen weiterlebte.In der Marienverehrung
blieben wenigstens Erinnerungsspuren an die Göttinnen des antiken
und des mitteleuropäischen Kulturraumes erhalten. Auch als "Partisanin"
in orthodoxen Spiritualitäten blieb die Göttin - in mancherlei
Verkleidung - gegenwärtig. (3) So wird die Neuerfahrung der Göttin
zunächst nicht im Rahmen einer etablierten Religion oder Tradition
erfolgen, sondern über rein persönliche Impulse, die dann in
Kleingruppen gelebt werden können. Nur in seltenen Fällen wachsen
Kinder in bereits bestehende Traditionen hinein. (4)
Göttinspiritualität
verwirklicht sich am besten im Rahmen einer Mysterienreligion. Historisch
gesehen waren die antiken Mysterienreligionen die am höchsten entwickelte
Form der Religiosität im Römischen Reich.(5) Vertrauen und Demut
gegenüber dem Handeln der Gottheiten, das die Mysten in den der
"Heiligen Erzählung" eines Mythos erlebten,verband
sich mit einer sehr persönlichen Heilssuche. Die/der in die Mysterien
eingeweihte Gläubige wusste, dass weder durch eine bloße Mitgliedschaft,
noch durch Selbstdemütigung dieses Heil gefunden werden
konnte. Der "Weg" war ein Wachstumsprozess, der sich nicht linear,
sondern in einem Umkreisen der göttlichen Geheimnisse vollzog. Die
Anhänger/innen der Mysterien aus allen gesellschaftlichen Schichten
(6), übten weiterhin ihre beruflichen und häuslichen Aufgaben
aus und suchten keine allein auf das Jenseits ausgerichtete Erlösung,
sondern Erfahrung des Göttlichen im "Hier und Jetzt". Dazu war auch
ein waches ethisches Bewusstsein gefordert. In den Tiefenerfahrungen
des Göttlichen waren die Mysterienreligionen dem Christentum
durchaus überlegen. Heute verwirklicht nur die 1976 von Lawrence Durdin-Robertson
und seiner Schwester Olivia gegründete Fellowship of Isis
die Idee einer Mysterienreligion. (7) Sie verzichtet dabei aber auf Geheimhaltung
von Riten und bekennt sich damit zu einer Grundidee der Moderne, nämlich
der freien Zugänglichkeit zu allen Quellen und Texten. Im Unterschied
zu traditionellen esoterischen Verbünden(z.
B. Freimaurer, Rosenkreuzer) hat sie den Ballast patriarchalischer Denkstrukturen
hinter sich gelassen und den Zugang zur Göttin-Erfahrung in der Alten
Welt wieder freigelegt.
Wenn
wir uns der Göttinspiritualität nähern, dann zeigt
sich erst einmal, dass vertraute Begriffe uns nicht weiterhelfen. Wo sind
eigentlich die unumstößlichen Quellen unserer Religiosität?
Auf welche Autorität(en) können wir uns berufen? Wir merken sehr
bald, dass unsere erste und wichtigste Führungsinstanz die persönliche
Erfahrung ist. Diese Erfahrung ist aber keineswegs "freischwebend".
Auslösend sind meistens konkrete Erlebnisse: So kann durch
eine Reise nach Kreta oder Malta die Erfahrung frühgeschichtlicher
Zeiten "herüberwehen", die Beschäftigung mit hinduistischer oder
buddhistischer Religion kraftvolle Bilder der hier wirkenden Göttin(nen)
hervorrufen oder hinter demBild
einer Madonna die segenspendende Isis mit dem Horuskind sichtbar
werden. Es gibt eine Fülle von Einstiegspunkten, durch die die Göttin
das Herz berühren kann. In unserer Kultur ist es nicht selten die
Gestalt der Sophia, die uns hilft, den Spiegel der Göttin, "dessen
Scherben durch Raum und Zeit gefallen sind"(8) wieder zusammen zu setzen.
Bisweilen
entsteht die Frage, ob es einen "Glauben an die Göttin" gebe.
Wenn damit die oben genannte innere Erfahrung gemeint ist, so möge
man das so nennen. Diese Erfahrung ist zwar individuell, kann aber in kleinen
religiösen Gemeinschaften durchaus bestärkt und vertieft werden.
Ist darunter allerdings eine gehorsame und unterwürfige Einstellung
zu verstehen, mit der sich der einzelne Mensch an Autoritäten oder
an vermeintlich sichere Überlieferungen klammert, dann ist dieser
Begriff"Glaube" abwegig.
Überlieferungen
gibt es für die Göttin-Bewegung zwarin
großer Zahl, angesichts der Fülle weltweiter Mythen. Aber diese
Mythen
fordern keinen "Glaubensgehorsam" in der Art des Christentums, sondern
sind Einstiegspunkte für ein Verständnis dessen, was verschiedene
Zeiten und Kulturkreise vom Handeln der Gottheiten zu sagen wussten.
Im Prinzip ist der Mythos eine heilige Überlieferung, wie Thora, christliche
Bibel und Koran, aber kein normierter Kanon wie diese Schriften. Mythen
sind vergleichbar mit den Fenstern eines großen Hauses, durch die
sich unterschiedliche Blicke in die freie Landschaft bieten. Nicht jeder
Blick wird für alle von gleicher Bedeutung sein. Verbindlich wird
nur das, was "einleuchtet", und wir merken sehr schnell, wo unsere
eigene geschichtlich-kulturelle Prägung uns entweder zustimmen oder
ablehnen lässt.
Es
besteht allgemeiner Konsens, dass die Göttin nichtüber
die Kräfte der Natur und der menschlichen Lebenszusammenhänge
herrscht. Sie ist vielmehr tief in diese eingebettet, es sind Lebensäußerungen
ihrer selbst. Sie selbst ist Wachstum und Vergehen. Eine
Anrufung aus der Wicca -Tradition (9) kennt folgenden Liedtext: By the
earth, this is Her body mother of us all… By the air, this is Her breath…sweet
wind of life… By the fire of Her bright spirit, shining candles in the
night…By the waters, this is Her blood, by the waters, the calm and the
flood…
SIE
selbst ist auch Beziehung in allen ihren Varianten. Insofern sind
auch die Mythen, die von einer Vereinigung von Göttin und Gott
sprechen von einer tiefen Sinnhaftigkeit: Das "mysterium coniunctionis"
(das Geheimnis der Vereinigung) ist ein kosmischer Akt, der sich in menschlicher
Liebe widerspiegelt und diese in besonderer Weise vergöttlicht, ohne
sie dabei allerdings an institutionelle Bedingungen zu binden.
Im
Unterschied zu den streng monotheistischen Schriftreligionen Judentum,
Christentum und Islam ist die Göttin in einem Beziehungsfeld
zu sehen: Immer wieder erzählen die Mythen auch von einem göttlichen
Partner und einem göttlichen Kind - letztgenanntes Motiv wurde in
das Christentum übernommen.
Es
drängt sich nun die Frage nach einem ursprünglichen und
letzten Prinzip auf. Einige Wicca - Anhänger scheinen von einer uranfänglichen,
richtiger gesagt metaphysischen, Dualität auszugehen. Andere Stimmen,
sie kommen aus der feministischen Bewegung, versuchen am Ursprungsprinzip
der Göttin festzuhalten und entwickeln ein Erklärungsmodell,
nach dem der Gott sterblich sei und nur in der Kraft der Göttin lebe.
Beide Vorstellungsmodelle befriedigen mich nicht. Ich möchte als Verständnismodell
das Bild einer Doppelspirale vorschlagen: Es existiert ein metaphysischer
Ursprung, nämlich eine sich entfaltende Spirale, die sich in einem
bestimmten Augenblick gegenläufig verhält und sich wiederum zu
einer neuen Spirale einrollt. So geht aus der weiblichen Gottheit die männliche
hervor, aber nicht im Sinne eines Schöpfungsaktes, sondern eines ewigen
Geschehens, wobei dieser Prozess auch reversibel sein kann (=Tod des Heros
im Mythos).
Daher
lässt sich auch sagen: Wo die Göttin erscheint, ist der Gott
entweder explizit oder implizit gegenwärtig. Das Männlich
- Göttliche kann auch verborgen in der androgynen Göttin
ruhen, etwa in der Jägerin Artemis oder in der Erscheinung von Isis,
die von sich sagt: "..die ich in mir die Gestalt aller Götter
und Göttinnen vereine". Die gnostische Allgöttin bezeichnet
sich als "Vater und Mutter" und als "mann - weiblich".
Diese
Grundüberlegungen kommen auch im Manifest der Fellowship of Isis (F.O.I.)/
Gemeinschaft der Isis (s.o.) zum Ausdruck, wenn davon gesprochen wird,
dass die Verehrung der Göttin auch für sich allein erfolgen
könne, die Verehrung des Gottes aber immer in Verbindung mit der Verehrung
der Göttin stehen müsse (Rückbindung = religio an den kosmischen
Ursprung).
Ein
solches Verständnismodell, mehr kann es nicht sein, trägt weitaus
mehr Sinnerfahrung in sich, als das Bild einer christlichen Dreifaltigkeit
aus Vater, Sohn und Geist, die in einem ewigen Liebesakt zueinander
in Beziehung treten. (Bezeichnenderweise rügen Judentum und Islam
dieses Gottesbild als nicht monotheistisch.) Nur die Jahrhunderte währende
christliche Sozialisation mit streng dogmatischen Vorgaben, konnte diesem
Modell eine gewisse Anerkennung verschaffen, zumal sie mit einer "Heilsökonomie"
verbunden wurde: Vater = Schöpfer, Sohn = Erlöser, Heiliger Geist
= Heiligung, Kirche, Sakramente.
Die
westliche religiöse Sozialisation ist so sehr von überlieferten
Gottesbildern und philosophischen Gottesbegriffen geprägt,
dass alle Abweichungen unter Rechtfertigungszwänge gesetzt werden.
Dabei ist es von der Grunderfahrung jedes einzelnen Menschen her
gesehen ganz einfach: Es ist die Mutter, mit der der Embryo symbiotisch
verbunden ist, die es durch den schmerzhaften Akt der Geburt in die Sinnenwelt
bringt, von der das Neugeborene die erste Nahrung erhält, mit der
das kleine Kind die ersten Schritte ins Leben wagt und mit der es in vielfältiger
Weise kommuniziert; von seltenen Ausnahmen abgesehen, ist sie es auch,
die dem Kind Verständigung ermöglicht, so dass wir von Muttersprache
reden, nicht von Vatersprache. Erst mit den entfernteren Begriffen tritt
die Vaterwelt stärker in Erscheinung (z. B. Vaterstadt, Vaterland).
Über die individuelle Erfahrung hinaus aber wirken meistens noch viel
stärker die archetypischen Muster, die sich mit den Begriffen "Mutter"
und "Vater" verbinden. Gerne wird an dieser Stelle eingewendet, dass die
geschilderte Mutterbindung nur eine Durchgangssituation im Leben jedes
Menschen sein könne und dass es der Vater sei, der die notwendige
Ablösung von der symbiotischen Mutterbindung zu leisten habe. An die
Stelle der Mutterwelt müsse die Vaterwelt treten. Aber auch die Vaterwelt
kann auf dem Wege der Individuation, also der Selbstwerdung, nur
ein vorübergehendes Stadium sein. Beides muss der Mensch bei einer
wachsenden Reifestufe integrieren, nicht verdrängen oder "hinauswerfen".(10)
So ist also die "Begegnung mit die Göttin" Teil eines Individuationsprozessesund
keine regressive Lebenseinstellung, sie verlangt Frauen und Männer,
die für sich Verantwortung zu übernehmen. Die andere Seite
diese Prozesses ist allerdings auch, sich nicht dem heute so verbreiteten
Machbarkeitswahn hinzugeben und Vertrauen in das Leben zu
entwickeln.
Es
wäre freilich eine Verengung, die Göttin nur im Bild der Mutter
zu sehen. Sie zeigt sich in vielen "Gesichtern": Auch als Jungfrau und
als Geliebte, als Kind und als weise Ratgeberin, als Schöpferin und
als Zerstörerin u.v.a.
Göttinspiritualität
ist eine Grenzen überschreitende Religiosität undüberwindet
die begrifflichen Grenzen von Monotheismus und Polytheismus.
"Sie" ist "die eine in allem" ("una, quae est omnia" - ein Göttinprädikat
in den Isismysterien), sie ist "Die mit den zehntausend Namen" (myrionymos).
So offenbart sich Isis dem Lucius in dem antiken Roman "Metamorphosen"(auch
als der "Der Goldene Esel" überliefert) mit folgenden Worten: "Ich
Allmutter Natur, Beherrscherin der Elemente, erstgeborenes Kind der Zeit...ich
die in mir die Gestalt aller Götter und Göttinnen vereine...Die
alleinige Gottheit, welche unter so mancherlei Gestalt, so verschiedenen
Bräuchen und vielerlei Namen der ganze Erdkreis verehrt..."
(es folgt die Aufzählung von Völkern und Gottheiten).
Göttinspiritualität
stellt somit die befreiende Alternative zu dem einengenden exklusiven
Monotheismus christlich - abendländischer Tradition dar ("Ich bin
Jahwe dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben" -
Sogenanntes 1. Gebot, das den Israeliten auferlegtworden
war).
Es
ist sicher Ansichtssache, ob man von einem inklusiven Monotheismus
sprechen möchte, also einer integrativen Form von Göttlichkeit
oder von einer vielgestaltigen göttlichen Erscheinungswelt, hinter
der ein einziges schöpferisches Prinzip steht, "wir dürfenes
als die Mutter der Welt betrachten, doch ich kenne ihren Namen nicht,
ich bezeichne es als Tao" sagt Lao Tse einmal in seinem berühmten
Buch Tao te king.(11) Letztlich sollten wir uns nicht an diese Definitionsfragen
klammern. Begriffe sind nur insofern hilfreich, als sie das, was wir als
tiefe Ahnung in uns tragen, veranschaulichen und mitteilbar machen. Die
eine Sonne, die unser Sonnensystem erleuchtet, kommt in vielen Strahlen
in unserer Atmosphäre an und ruft jeweils ganz unterschiedliche Temperaturen
hervor. Und bleiben wir beim Licht: Ob wir es als Korpuskel oder als Welle
betrachten - beide Standpunkte sind richtig und sollten sich gegenseitig
ergänzen.
Wichtiger
erscheint mir ein anderer Gesichtspunkt: In der Geisteswelt des 21. Jahrhunderts
können wir nicht mehr so unbefangen von Polytheismus sprechen,
wie es in Wicca-Kreisen geschieht.(12) So verständlich es ist,
wenn hier versucht wird, der Begriffsdominanz des Christentums etwas Eigenständiges
entgegenzusetzen - die angebotenen Alternativen müssen im Bewusstseinshorizont
unserer Zeit liegen! Das bedeutet, dass die vorgeschlagene Alternative
nicht einfach durch geschichtlichen Rückgriff erfolgen darf und ein
differenziertes Bild des Göttlichen aufweisen muss.
Der
Gründer (13) von Wicca, Gerald Gardner, der auch von Aleister Crowley
unterstützt worden sein soll und der aus der okkult-magischen Szene
kam, kann keinesfalls als ein Repräsentant von Göttinspiritualität
angesehen werden. Auch waren seineVorstellungen,
heidnische Kulte wieder aufgespürt zu haben, mindestens starkübertrieben.
Erst durch die verdienstvolle und fundierte Arbeit von Doreen Valiente
(erste Hohepriesterin bei Gardner) trat die Göttin in das Zentrum
des Wicca - Kultes mit seinen weitgehend voneinander unabhängigen
"coven". Auf Gardner und seinen engeren Kreis (Gardnerian-Wicca) geht auch
die Faszination mancher Wicca-Gruppen für Sexualmagie zurück,
die u.a. bei "Initiationen" praktiziert wird. Diese als Initiationsakt
(!) real vollzogene Sexualmagie zeigt nicht nur unreife Züge, sie
verzerrt auch die rituellen Beziehungen zwischen Frauen und Männern
und leistet einer verdeckten patriarchalischen Dominanz Vorschub. (14)
Unter
einem feministisch geprägten Erfahrungshorizont wirkten Zsusanna
Budapest und Starhawk (Miriam Simos). Während sich Budapests magische
Arbeit nahezu ausschließlich auf Frauen konzentriert, veranstaltet
Starhawk auch öffentliche Rituale mit einem größeren Teilnehmer/innenkreis
- im Unterschied zur Wiccatradition. Ihre Arbeit hat auch starke politische
Akzente ("Das Spirituelle ist das Politische") und wird gerne unter
den Begriff "Ökofeminismus " gestellt. Die symbolreichen undkraftvollen
Ritualtexte, in einer poetischen Sprachform gestaltet, werden gerne von
Gruppen, die sich heute neu gründen,übernommen.
Gelegentlich wäre allerdings ein Mehr an existenzieller Tiefe wünschenswert.
An
dieser Stelle muss auch der Begriff "Neuheidentum" kurz beleuchtet
werden.(15) Ich sehe diesen Begriff ambivalent: Positiv erscheint
mir daran, dass damit wieder eine Tür geöffnet wurde, die durch
christliche Indoktrination Jahrhunderte lang fest verschlossen schien.
Der Übergang von den antiken,keltischen
und germanischen Religionen zum Christentum wurde in traditioneller Kirchendoktrin
in unhistorischer Weise mystifiziert und zur "Zeitenwende" erklärt,
zu einem unumkehrbaren Prozess (lineares Denken!). Die Beschäftigung
mit vorausgehenden Religionsepochen durften allenfalls Sache von Fachwissenschaftlern,
nicht aber Thema einer existenziellen Auseinandersetzung sein (16). Verschleiert
wurde auch die ganz offensichtliche Abhängigkeit christlicher Riten
und Feste vom antiken Erbe (17), insbesondere von den Mysterienreligionen.
Selbst die im Neuen Testament ausführlich behandelte Funktion des
Christus als eines Retters und Erlösers ist ohne den Hellenismus und
die Mysterienreligionen nicht denkbar.
Problematisch
hingegen erscheint mir allerdings die Vorstellung, man könnte numinose
und divinose Erfahrungen vergangener Zeiten einfach übernehmen, ohne
sie mit dem Bewusstseinshorizont unserer Zeit konfrontiert zu haben. Erst
in dieser Auseinandersetzung gewinnt Göttinspiritualität ihre
eigentlichen Konturen. Diese innere Einheit kommt vor allem in den Riten
der Fellowship of Isis zum Ausdruck.(18) Sie ist als eine zeitlich-räumlich
universelle Göttinreligion konzipiert und hat damit einen ökumenischen
Charakter.
In
den christlichen Kreisen, die durch die feministische Theologie
beeinflusst sind, ist es seit ein bis zwei Jahrzehnten üblich geworden,
in Gottesdiensten und Andachten "Gott" auch in Verbindung mit dem weiblichen
Artikel "Sie" zu gebrauchen - zum Schrecken vieler konventioneller Kirchenchristen!
Die Urheberinnen dieser Wortwahl haben dabei zwei Aspekte im Auge: Den
krassen Ausschluss der Frau aus dem Bild des Göttlichen (19) wenigstens
zu mildern und das grundsätzlich Unsagbare des Göttlichen nicht
durch einem einseitigen Sprachgebrauch zu verengen. Letztlich scheitern
alle diese gut gemeinten Versuche an der absoluten Dominanz nicht nur männlicher,
sondern ausgeprägt
patriarchalischer Gottesbilder in den biblischen
Texten - nicht nur des sogenannten Alten Testamentes. So wurde der Eigenname
des Gottes Jahwe konsequenterweise im Judentum und im Christentum nicht
nur mit "Herr", sondern mit "der Herr" wiedergegeben. ("So spricht
der Herr", die geläufige prophetische Botenformel). Die wenigen Abweichungen
von einem herrscherlichen Gottesbild machen nicht einmal ein Prozent der
gesamten Texte aus, in denen "vom Handeln Gottes" gesprochen wird und stellen
die grundlegenden Gottesbilder
der israelitischen und der späteren
jüdischen Tradition nicht in Frage. Es ist nicht zu übersehen,
dass der biblisch-alttestamentliche Gott vorwiegend in herrscherlichen,
richterlichen und aggressiv unduldsamen Kategorien erscheint und inden
späten und endgültigen Texten außerhalb aller Naturzusammenhänge
steht. (20) Aus religionsgeschichtlicher Sicht bleiben also die gut gemeinten
Versuche kirchennaher Feministinnen (z.B. Susanne Heine) fragwürdig,
es sei denn, sie begäben sich auf "Spurensuche" nach der im späten
Israel verdrängten Göttin. Für die gegenwärtige Göttinbewegung
sind daher Modelle und Begriffe, die aus biblischen und kirchlichen Texten
stammen, meistens unzulänglich.
Es
gibt jedoch eine wichtige Ausnahme: Im Begriff der Sophia, der "Heiligen
Weisheit", existiert eine segenspendende Kraft, die - oft unerkannt
- patriarchalische Religiosität durchzieht. Sie tritt als geheimnisvolle
"Frau Weisheit" in den spätesten alttestamentlichen Schriften hervor,
Jesus aus Nazaret beruft sich auf ihre Worte, die Gnostiker verehren sie
und christliche Mystiker/innen fühlen sich mit ihr verbunden. Sie
ist keine dominante, aber auch keine nur dienende Gestalt. In ihrem Wesen
ist sie eine Offenbarungsweise der Göttin, die Konfessionen, Religionen
und Kulturen versöhnt, Konflikte entschärft und Verletzungen
heilt. Diese Eigenschaft zeigt sie dadurch, dass sie sich auf der (verborgenen
und doch wirksamen) Sinnebene bewegt. Ein Mythos, der in unserer Zeit erzählt
wird, sieht in Sophia die Tochter der Großen Göttin, die zu
den Menschenkindern gesandt wird, um Versöhnung zu bringen.
Die
feministische
Theologie hat unterschiedliche Ausprägungen entwickelt und die
unerschrockenen Vertreterinnen dieser seit 30 Jahren bestehenden Theologie
haben nicht unerheblich die Göttinbewegung gefördert und weiterentwickelt.
In engem Kontakt zu biblischen Texten, jedoch in kritischer Distanz zu
der darin enthaltenen männlichen Anthropozentrik und Machtentfaltung
entstanden z. B. wichtige Erkenntnisse zur Entstehung von alt- und neutestamentlichen
Texten, zur Symbolgeschichte und zur gesellschaftlichen Stellung der Frau
in der Alten Welt. Die im Alten Israel verdrängte Göttin wurde
eingehend thematisiert und führte auch zu neuen Ritualen in Frauengruppen,
die im Unterschied zu der o.g. Ausprägung den Mut haben, in Distanz
und Konflikt mit ihren Herkunftskirchen zu leben. Ihre Hauptverteterinnen
sind: Catharina Halkes, Elisabeth Moltmann-Wendel, Christa Mulack, Gerda
Weiler, Elga Sorge, Carol Christ, Mary Daly, Elisabeth Schüssler-Fiorenza
u.a.. Eine in Ostasien besonders bemerkenswerte Frau ist Chung Hyung Kyung,
eine koreanische Theologin. Alle Genannten haben durch ihre Publikations-,
Vortrags- und Workshoparbeit viel Resonanz (und viel Kritik) erfahren.
Leider scheinen immer noch zwischen paganen Kleingruppen und feministischen
Theologinnen gewisse Berührungsängste zu bestehen.
Ein
Teil der Anhängerinnen der Göttin verwendet gerne die Selbstbezeichnung
"Hexe".
Als Symbolbegriff verstanden meint das Wort: Wie die germanische und althochdeutsche
"hagazussa" (die im Hag = an der Grenze des bebauten Landes Lebende,
die "Zaunreiterin"), ist die Hexe gleichzeitig in zwei Welten, der
sinnlich-realen und der magischen Welt zuhause. Auf dieser Ebene kann der
Begriff sehr sinnvoll sein und vor allem den magischen Aspekt der Göttinbegegnung
hervorheben. Auch als solidarische Rückbesinnung auf die "Zeit der
Verzweiflung" (=Hexenverfolgung des 13. bis 17. Jahrhunderts) ist "Hexe"
- sowohl für Frauen als auch für Männer gebraucht - recht
bedeutungsvoll. Historisch unbegründet ist freilich die von Margaret
Murray aufgestellte These (21) einer kontinuierlichen heidnischen Religion,
die sich von frühesten Zeiten durch Mittelalter und Neuzeit erstreckt
habe und deren Priesterinnen als Hexen bis in die Gegenwart geheime Riten
gefeiert hätten.
"Ich,
Allmutter Natur": Mit dem Pantheismus kann die Göttinspiritualität
sehr gut umgehen, im Unterschied zu den westlichen patriarchalen Religionen,
in denen immer wieder gerade Mystiker wegen "Pantheismusverdacht" verurteilt
und sogar hingerichtet wurden(22). Die Mystiker waren große Liebende,
die von ihren (westlichen) Religionsgemeinschaften meistens missachtet
oder wenigstens an den Rand gedrängt wurden. Ihre Erfahrungen von
der Einheit mit dem Göttlichen passten nicht in das religiöse
Konstrukt eines rein überweltlichen und allmächtigen Gottes,
dessen Wille alles regiert und voraussieht.(23)
Daher
verwarfen die orthodoxen Kirchenmänner auch den Panentheismus,
eine
religionsphilosophische Aussage, die bedeutet, dass
das Göttliche seinenPlatz
ganz in diesem Kosmos hat und dass es keinen "Sonderort" mehr dafür
gibt. Das Dogma der monotheistischen Weltreligionen hängt damit zusammen,
dass "Gottvater" - der im Prinzip immer ein Herrscher ist - als überhöhtem
Wesen ein eigener, "himmlischer" Bereich entsprechen muss: "Der Himmel
ist mein Thron, die Erde der Schemel meiner Füße..."(24). Mit
der Verfluchung des Pantheismus ging eine tiefe Bewusstseinsspaltung
einher, die zur Abwertung der Erde, der gesamten Natur, der Sinnenwelt
und auch der Frau führten. Die schmerzliche Erfahrung der westlichen
Mystiker, die tiefe Einheitserfahrungen mit dem Göttlichen machen
durften und dabei ständig unter Häresieverdacht gerieten, ist
in der Göttinspiritualität aufgehoben: Der göttliche Energiestrom
ist nie unterbrochen, "Sündenangst" und Ohnmachtsbewusstseinwerden
gegenstandslos (s.u.). Das Lebensgefühl der Verwobenheit mit dem Leben
der Göttin kommt sehr schön in einer
Meditation zur Vertreibung
von Furcht zum Ausdruck, die Zsusanna Budapest entwickelt hat
(25).
Darin
gibt die Göttin die Zusage:
Du
bist ein Kind des Universums
Ich
verleihe dir meinen allmächtigen Schutz.
Du
erglänzt von Kopf bis Fuß in goldenem Licht
Du
bist mein erwähltes, beschütztes Kind, und ich bin dein Schild
Winde
beflügeln deinen Fortschritt.
Wasser
reinigt dich von aller Furcht.
Feuer
werden dich von Zweifeln läutern,
und
die Erde nährt und heilt dich.
Alles
ist gut, alles ist gut, alles ist gut.
In
die Ich-Form gebracht (ebf. durch Z. Budapest) ergibt sich ein meditatives
Gebet von großer suggestiver Kraft.
Die
Frage "Person oder unpersönliche Kraft und Energie? "erweist
sich danach als eine falsche Alternative. Wenn man unter Person
kein Lebewesen versteht ("die Göttin ist keine Frau, der Gott ist
kein Mann"),sondern ein aus einem
Zentrum heraus handelndes, verstehendes und mitfühlendes Wesen, dann
ist die personale Seite der Göttin nicht in Zweifel zu ziehen. Ansonsten
wären alle Anrufungen und auch die zahlreichen Gebete nicht sinnvoll.
Aber natürlich trifft auch die andere Seite zu: Energie, Kraft, "Innewohnen"
in allen sinnlichen und geistigen Erfahrungen. Person und Kommunikation,
das
ist die wunderbare Verbindung, die uns in verschiedenen Lebenslagen bewusst
wird.
Auch
hier zeigt sich die systemüberwindende Kraft der Göttinspiritualität.
In ihr atmet nicht nur die personale Nähe westlicher Glaubenserfahrung,
sondern auch die transpersonale Weite östlichen Denkens. Sie ist damit
wahrhaft ökumenisch und universell, in östlichen wie in westlichen
Kulturkreisen praktizierbar.
Die
"Eigenschaften" der Göttin entfalten sich aus dieser Verbindung von
Person und Kommunikation und verwirklichen sich im Beziehungsfeld
zum menschlichen Bereich. Das wichtigste Merkmal ist ihre Allverbundenheit.
Insofern
ist sie unbegrenzte Kommunikation und Liebe. Die Liebe der Göttin
lebt jedoch nicht außerhalb der Naturordnung und der kosmischen Gesetze,
die von Werden und Vergehen bestimmt sind. Die Göttin "handelt"
im Rahmen der Evolution. Werden ist nicht "Schöpfung aus dem
Nichts", sondern Gestaltung und Höherentwicklung aus Vorhandenem,
Vergehen ist ebenfalls kein Rückfall ins Nichts, sondern Verwandlung
nach einem geheimen Sinn. "Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinns
ewige Unterhaltung"
, um ein Wort von Goethe zu zitieren. In diesen
Kräften wird die Göttin selbst präsent, wenn sie in dreifacher
bzw. dreifaltiger Gestalt erscheint: Als Geheimnis des Anfangs d.h.
als Jungfrau-Göttin (weiße G.), als entfaltete Lebensform in
der Geliebten und Mutter (rote G.) und als sich neigende Lebensform in
der Weisen Alten (schwarze G.).
Wir
brauchen uns auch nicht ängstlich an die Vorstellung von Schöpfungsakten
zu klammern, wie in patriarchalischen Religionssystemen: "Schöpfung"
ereignet sich immer; sie ist mit jeder Veränderung gegenwärtig.
Das Geheimnis des "Anfangs" ist ohnehin nicht zu enträtseln. Ein einziges
Bild ist dafür nicht aussagekräftig; nein -nur
durch eine Fülle von mythologischen Bildern kann es umkreist werden.
Eines der schönsten ist das der tanzenden Göttin, unter deren
Schritten sich Land und Meer trennen. Wichtig erscheint mir die unauflösbare
Verbindung der Göttin mit allem Existierenden: Sie, die den Kosmos
gebiert, bleibt damit in einer ständigen lebendigen Beziehung.
Ein
gleichnishaftes Abbild für diese Verbundenheit stellt der weibliche
Zyklus dar. Er ist die einzige Erfahrungsweise, Leben und Schöpfungskraft
durch Blut zu ermöglichen. Jedes patriarchale "Blutopfer", ob im Krieg
oder auf dem Opferaltar ist naturverachtend und somit zerstörerisch,
erst recht, wenn es sich um sogenannte "Heilige Kriege" handelt. Der weibliche
Zyklus wird daher in der Göttinreligion auch einen kultischen Stellenwerteinnehmen.
Als
geheime Kraft der Evolution ist sie auch Sinngeberin und Sinnstifterin;
das,
was wir in der Natur empirisch erfahren können, wird im eigenen
Leben zur Sinnsuche und damit zum Selbstfindungsweg. Ihre Zuwendung zu
allen Kreaturen zeigt sie als Inbegriff der Barmherzigkeit,
aber
die andere Seite der Sinnstiftung bedeutet auch, dass kein Wesen dauernd
in seiner Gestalt bleiben kann; die Göttin ist auch Verwandlerin
und
sogar Herausforderin, weil wir die Prozesse von "Vergänglichkeit",
Veränderung und Tod fürchten, die unsere Identität zu gefährden
bzw. aufzulösen scheinen. Vertrauen wir auf die geistige Evolution,
die uns in eine neue Existenz verwandelt und die Chance zu höherer
Entwicklung enthält.
Wenn
Frauen und Männer in das Beziehungsfeld der Göttin treten, dann
kann der Begriff "Gnade" nicht ausgespart bleiben, auch wenn er
im Christentum verengte Konturen angenommen hat. Gehen wir zurück
auf den griechischen Wortsinn von "charis", so ist damit Huld und
Zuwendung, auch Freude und Schönheit gemeint. Es ist so, als ob eine
dichte Wolkendecke reißt und das Sonnenlicht voll hervortritt. Das
hat nichts mit Sündenangst und Minderwertigkeit zu tun; es liegt an
uns, ob wir bereit sind, göttliches Licht in unser Inneres zu lassen.
Die ersten Schritte müssen wir aber schon selbst tun! Das gilt auch
im Verhältnis zum Karma. Wenn wir davon ausgehen, dass unser
Selbst oder eine Instanz davon nicht ohne eine Prägung in dieses Leben
tritt, dann vollzieht sich in jedem Lebensprozess ein Wechselspiel von
Karma, Gnade und freiem Willen, d.h. von Entscheidungen, die sich vor
einem Hintergrund von Belastungen und Chancen abspielen und sich gleichzeitig
zur Gnade hin öffnen können.
Manchmal
taucht in der Göttinspiritualität auch der Begriff "Allmacht"
auf, der mir jedoch problematisch erscheint.(26) Denn die patriarchalische
Religiosität ist eng mit einem Wechselspiel von Allmacht und Ohnmacht
verknüpft. Menschliche Entwicklung wird dadurch behindert, infantile
Abhängigkeit genährt und ein Unterwerfungsmuster gezüchtet.
Die "Macht und die Herrlichkeit" auf der religiösen Ebene hat immer
noch zur Widerspiegelung im gesellschaftlichen Bereich beigetragen, hat
Hierarchien begünstigt und Selbstentfremdung gefördert. Ich setze
der Vorstellung von "Allmacht" die Allverbundenheit (s.o.) und der Vorstellung
von der "Allwissenheit", die Idee eines spontanen (dabei sinnerfüllten!)
Werdens entgegen: Alles, was sich vollzieht, ist erst im Augenblick
seiner Entstehung definiert, also weder vorausbestimmt noch vorausgewusst,
was aber Naturgesetze nicht aufhebt, sondern nur deren absoluten Charakter
begrenzt.(27) So können wir uns zugleich von den "Gottesprojektionen"
befreien, die der Mensch der Moderne durchschaut und die eines der größten
Hindernisse sind, sich wieder an das Göttliche hinzugeben. (28) Im
Anklang an buddhistisches Denken möchte ich auch gerne das Bild verwenden,
dass es etwas gibt, was aller Substanz zugrunde liegt und diese erst ermöglicht:
So ermöglicht erst die Stille den Klang oder die Leere das geformte
Sein.
Das
Leitbild aller patriarchalischer Religiosität ist der gehorsame Mensch,
nicht der fragende und nicht der zweifelnde. Ich setze an die Stelle des
Gehorsams die Einsicht, so dassan
dieser Stelle der befreiende Aspekt der Göttinspiritualität
besonders zum Tragen kommt. (29)
Befreiend
ist gewiss auch, dass überlieferte Begrenzungen des Denkens und Fühlens
aufgehoben werden. An einigen Beispielen sahen wir bereits, wie fixierte
Begriffe ihren Sinn verlieren und aufgelöst werden. Die Verbotsschilder
unserer geistlichen "Wächter" werden so sinnlos wie deren Amt. Man
denke nur an deren Warnungen vor "Esoterik", vor Astrologie und Magie.
Richtig ist allerdings, dass alte Abhängigkeiten nicht durch neue
ersetzt werden sollten! Aber wer Astrologie, Tarot und andere esoterische
Künste als einen Selbstfindungsweg und Magie als eine verfeinerte
Wirklichkeitserfahrung praktiziert, der begegnet der Göttin in Gestalt
der Weberin, jener weisen Alten, die unseren begrenzten Blick auch auf
zukünftige Dinge richtet. Wer die
Mysterien feiert, trifft
auf die Initiatorin, die in tiefere Seinserfahrungen hineinführt (z.B.
durch eine Einweihung), wer meditiert, vereinigt sich mit der Ermächtigerin,
der Weisheitsgöttin Sophia.
Im
Kosmos der Göttin haben auch mannigfaltige Geistwesen ihren
Platz, wie Elfen, Sylphen, Nymphen als Naturgeister, Feen als "Zeitenweberinnen"
und Engel als Boten spiritueller Wahrheiten. Es wird allerdings darauf
ankommen, die Erfahrung solcher Wesen nicht völlig jenseits der Empirie
anzusiedeln. Sie könnten mindestens am Rande eines offenen, "holistischen"
Weltbildes ihre Bedeutung haben, insbesondere dann, wenn zwischen der mythologischen
Einkleidung und einem tieferen Sinngehalt unterschieden wird.
Grundsätzlich
sind es fünf Wege, die zum Tempel der Göttin führen:
Mythos,
Magie, Meditation, Mysterien und Mystik. Grundsätzlich darf keiner
dieser Wege ausgeschlossen werden - glücklich, wer sie alle durchschritten
hat!
Nach
diesen etwas komplexen Ausführungen erscheint es einfach, über
die Ethik der Göttinspiritualität und das ihr gemäße
Menschenbild
zu sprechen.
Es
ist leicht einsehbar, dass die massive Trennung des Menschen von der ihn
umgebenden "Mitwelt" aufgehoben ist. An die Stelle der Anthropozentrik
(30) der monotheistischen Weltreligionen und ihrer "Heiligen Bücher"
tritt die Koexistenz und Partnerschaftlichkeit aller Geschöpfe.
Aufgabe des Menschen kann es nur sein, einen Interessenausgleich zu schaffen,
der sich am Prinzip des Ökologischen Gleichgewichts zu orientieren
hat. Das schließt besonders den sparsamen Umgang mit nicht erneuerbaren
Energien ein und einen massiven Einsatz von regenerativen Energien. Auf
der Ebene des Zusammenlebens muss universelle Geschwisterlichkeit
an die Stelle des Konkurrenzdenkens treten oder diesem wenigstens den Vorrang
abnehmen. (Wie unendlich weit sind wir von dieser Perspektive noch entfernt!)
"Alle
Menschen haben das gleiche Recht auf Glück".
Diese Wort des
Dalai Lama sollte richtungsweisend für globales Handeln sein. Krieg
darf kein Mittel mehr zur Durchsetzung von einzelstaatlichen Interessen
oder von Machtbündnissen sein. (31) Fairer Handel hat allen Staaten
die Chance zu bieten, am Weltmarkt teilzuhaben. Letztlich muss eine sozialethische
Perspektive gefunden werden, der persönlichen Arbeit wieder
den
Vorrang vor dem "arbeitenden" Kapital zu geben, genau umgekehrt
zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem.
Auch
auf der Ebene der Individualethik wird Göttinspiritualität
zu einem Paradigmenwechsel ihren Beitrag leisten. Die Goldene Regel der
Nächstenliebe:
"Liebe deine(n) Nächsten wie dich selbst", ein uraltes
Weisheitswort spiritueller Meister (32) kann so lange nicht umgesetzt
werden, als die Wege dazu nicht klar sind. Unter den Bedingungen von Konkurrenzdenken
und Kontrolle, von Konsummentalität und Hedonismus ist sich jede/r
selbst die/der Nächste. Erst aus der Erfahrung der wechselseitigen
Verwobenheit und der allseitigen Abhängigkeit kann Neues erwachsen.
Somit ist auch kein schrankenloser Altruismus gemeint, sondern eine kluge
Einsicht in Zusammenhänge. Hätten die westlichen Gesellschaften
ihren Person-Begriff nicht so einseitig gepflegt, dann könnte das
Wort auch lauten: Liebe deine(n) Nächsten als dein Selbst.
Für beherzigenswert, aber zu wenig tiefgehend halte ich die geläufige
Wicca-Regel: "Tue, was du willst, doch schade niemandem dabei."
Wichtig
erscheint mir auch, dass der Mensch unserer Tage wieder ein erneuertes
Zeitverständnis
lernt, dass Frauen und Männer sich von der Vorstellung eines linearen
Ablaufes der Zeit lösen und wieder den rhythmischen Wechsel der
Zeit spüren lernen. Dazu hilft die Feier der acht Jahreszeitenfeste
in besonderem Maße, aber auch das Begehen von Mondfesten kann fördernd
sein. Das ganze Leben kommt dadurch wieder ins Fließen und tritt
in Einklang mit der Natur, von der der Mensch selbst ja ein markanter Teil
ist.
Es
versteht sich ebenfalls von selbst, dass die Beziehungen von Frauen
und Männern - befreit aus einer patriarchalischen Bewusstseinsstruktur
- neue Qualitäten gewinnen.(33) Wenn einseitige Rollenzuweisungen
und die damit für beide Geschlechter einhergehenden Einschränkungen
fallen, dann wird Raum für emanzipatorische Prozesse, ganz
gleich ob auf der praktischen, emotionalen oder mentalen Ebene. In diesen
Prozessen werden jeweils auch "Weiblichkeit" und "Männlichkeit" in
beiden Geschlechtern entwickelt und integriert.Auf
der spirituellen Ebenewird allerdings
von der Frauenbewegung manchmal übersehen, dass die Göttin der
Frauen auch eine Göttin der Männer ist - mögen die Zugänge
zu ihr auch geschlechtsspezifisch etwas unterschiedlich sein.(34) Die Göttin
existiert nicht deshalb, weil Frauen ein Zentralsymbol für das weibliche
"Sein in der Welt" benötigen, vielmehr ergibt das Sein der Göttin
eine Hinweis darauf, dass es gerade die weiblichen Wurzeln sind, die bis
in die Tiefen des materiellen und geistigen Universums reichen, bis dorthin,
wo das reine Licht der Klarheit alle menschlichen Begriffe übersteigt.
Nürnberg, September/Oktober 2002
Anmerkungen
Einführende
Literatur
Da
die Literatur sehr umfangreich ist, seien hier nur einige einführende
Titel genannt, die als Basis für eine Vertiefung dienen können.
Titel
mit übergreifender Themenstellung:
Matthews,
Caitlín: Die Göttin. Braunschweig 1992
Husain,
Shahrukh: Die Göttin. Das Matriarchat, Mythen und Archetypen, Schöpfung,
Fruchtbarkeit und Überfluss. München 1998
Lucius
Merlin: Begegnung mit der Göttin. 2. verb. Aufl. 2002
Aus
feministischer Sicht:
Mulack,
Christa: Religion ist zu wichtig, um sie den Männern zu überlassen.
Die Göttin kehrt zurück. Stuttgart ca. 1998
Unter
Bezug auf allgemeine und christliche Symbolik:
Schaupp,
Susanne: Sophia. Das Weibliche in Gott. München 1994
Aus
sozialwissenschaftlicher und kulturphilosophischer Sicht:
Whitmont,
Edward C.: Die Rückkehr der Göttin. Von der Kraft des Weiblichen
in Individium und Gesellschaft.München
1989
Zu
Wicca und Naturreligion:
Crowley,
Vivianne: Naturreligion. Was Sie wirklich darüber wissen müssen.
München 1998
Wichmann,
Jörg: Wicca. Die magische Kunst der Hexen. Geschichte, Mythen, Rituale.
Berlin 1984
Zur
Fellowship of Isis / Gemeinschaft der Isis:
Aus
den zahlreichen Schriften nenne ich nur 2 Titel (zu beziehen über:
fellowship_of_isis@online.de)
Robertson,
Olivia: Die vestalische Flamme - das Lyceumskursbuch (The F.O.J.-Manual)
Robertson,
Olivia: Dea. Die Rituale
und Mysterien der Göttin (Liturgie der Fellowship of Isis)
Zu
den historischen Mysterienreligionen:
Giebel,
Marion: Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Griechenland, Rom
und Ägypten. Zürich und München 1993
Kloft,
Hans: Mysterienkulte der Antike. Götter, Menschen, Rituale. München
1999
Über den Autor
22.08.1938
Geburt in Dresden
1947
Umzug nach Kempten
Juli 1958 Abitur
1959 - 67 Studium in Tübingen
und Würzburg
ev. und kath. Theologie, Germanistik, Philosophie und Volkskunde
1968
Zusatzausbildung für Höheren Dienst an Wissenschaftlichen Bibliotheken
04.07.1969 Philosophisches Doktorexamen
Juni 1974 Dienstantritt in der
Stadtbibliothek Nürnberg
März 1993 Ernennung zum Bibliotheksdirektor
24.07.1995 Eintritt in die Fellowship of Isis
1999
Gründung des Iseums von Isis, Horus und Sophia
2001
Ruhestand
April 2003 Reise ins Sommerland
aus der Trauerrede:
Günther Thomann war Teil dieser Erde. Er war ganz und gar Mensch
und Bürger dieses Planeten. Aber er war mehr als das. In seiner inneren,
geistigen und spirituellen Wegstrecke hatte er seit vielen Jahren die ihm
überflüssig scheinenden Begrenzungen von Dogmatik und verfasster
Religion hinter sich gelassen. Evangelisch getauft, dann zum Katholizismus
konvertiert. Beide konfessionellen Theologiestudiengänge durchlaufen.
Und dann schließlich die Kirche verlassen. Günther Thomann hat
den Gott der Kirche hinter sich gelassen, um seiner Verbundenheit mit dem
Universum in anderer Weise Ausdruck zu geben. Er hat den Gott verlassen
und die Göttin gefunden. Er ist den Weg gegangen von der Mutter Maria
zu einer anderen Mutter, die den Namen lsis trägt In der “Fellowship
Of lsis“ hatte er eine Gemeinschaft gefunden, die ihm eine innere Heimat
wurde, um seine ganz persönliche Erfahrung des Göttlichen zu
leben und zu formulieren. Die Göttin, die Mutter allen Seins, erlebbar
im Kreislauf von Werden und Vergehen, in der Bewegung der Gestaltung und
Höherentwicklung aus Vorhandenem, in der allgegenwärtigen und
fortwährenden Schöpfung. Diese Mutter, diese Urkraft allen Lebens,
wurde seine innere Säule, seine Stütze. Ihr hat er Ausdruck verliehen
in seinen vielen Veröffentlichungen, in wissenschaftlichen Texten,
aber auch in Gedichten und Gebeten.
Günther Thomann war ein Kind des Universums.
© Ernst Cran