Göttinspiritualität in unserer Zeit

Eine Gedankenskizze

Lucius Merlin

Vorbemerkung: Längere Zeit habe ich gezögert, einen Beitrag wie den vorliegenden zu schreiben. Darum sind diese Ausführungen erst nach dem Erscheinen meines Buches "Begegnung mit der Göttin" (1.Aufl. 2001; 2. Aufl. 2002, jeweils im Selbstverlag) entstanden. Ich bin mir bewusst, dass dieses Thema eigentlich nur in hymnischer und metaphernreicher Sprache oder in archetypischen Bildsymbolen angegangen werden kann.(1) Auch klingt mir das Wort von Lao Tse in den Ohren: "Wer redet, weiß nicht, wer weiß, redet nicht", das der große chinesische Philosoph über die letzten Wahrheiten gesagt haben soll. Wenn ich nun dennoch einen eher nüchternen Abriss verfasse, der eigentlich Thema eines Buches sein müsste, dann habe ich vor allem zwei Gruppen von Fragestellern vor Augen: Jene, die eine stärker strukturierte Orientierung suchen und dann die redlichen Skeptiker/in­nen, die die Barrieren der Selbstgerechtigkeit bereits überwunden haben. Wer allerdings Vorurteile und liebgewordene Denkmuster nicht aufgeben will, für die/den wird auch der nachfolgende Text nicht hilfreich sein. Zahlreiche Hinweise auf christliche Positionen dienen nicht der Polemik, sie sollen vielmehr den Blick für die Konturen der Göttinspiritualität schärfen. Der nachfolgende Text versucht, das allen Richtungen Gemeinsame herauszuarbeiten; wo das nicht möglich war, wird auf unterschiedliche Auffassungen hingewiesen. Es ist durchaus möglich, dass durch die Mitgliedschaft des Verfassers in der "Fellowship of Isis" bestimmte Sichtweisen besonders hervortreten.

Immer mehr Menschen entdecken die Göttin als spirituelles Zentrum ihres Lebens, können sich aber oftmals noch nicht vollständig von althergebrachten Denkkategorien lösen. So entsteht gelegentlich ein Zwiespalt zwischen gefühlsmäßiger Sicherheit und mentaler Klarheit, der das Weiterschreiten auf dem "Spiralpfad der Göttin" (2) behindern kann. Aber auch für außen stehende Betrachter/innen ergeben sich zahlreiche Fragen. 

Die über viele Jahrhunderte währende religiöse Sozialisierung durch das Christentum hat tie­fe Spuren in unsere kollektive abendländische Mentalität eingegraben. Sowohl die vorrationale Bilderwelt, die uns ganz besonders als Kinder tief beeinflusst hat, als auch die Begriffswelt sind weitgehend christlich "vereinnahmt". Für letztere gilt, dass sie - mindestens auf der dogmatischen Ebene - das Verständnis für Religionen vergangener Zeiten oder anderer Kulturräume eher behindert als erleichtert.

Ich spreche hier von Spiritualität, nicht von Religion. In den westlichen Gesellschaften (einschl. Islam) ist seit 1000 - 1500 Jahren die lebendige Tradition eines Göttin-Kultes mit Tempeln, Riten, Prozessionen und Einweihungen abgebrochen, wenngleich diese auf den inneren Ebenen weiterlebte.In der Marienverehrung blieben wenigstens Erinnerungsspuren an die Göttinnen des antiken und des mitteleuropäischen Kulturraumes erhalten. Auch als "Partisa­nin" in orthodoxen Spiritualitäten blieb die Göttin - in mancherlei Verkleidung - gegenwärtig. (3) So wird die Neuerfahrung der Göttin zunächst nicht im Rahmen einer etablierten Religion oder Tradition erfolgen, sondern über rein persönliche Impulse, die dann in Kleingruppen gelebt werden können. Nur in seltenen Fällen wachsen Kinder in bereits bestehende Traditionen hinein. (4) 

Göttinspiritualität verwirklicht sich am besten im Rahmen einer Mysterienreligion. Historisch gesehen waren die antiken Mysterienreligionen die am höchsten entwickelte Form der Religiosität im Römischen Reich.(5) Vertrauen und Demut gegenüber dem Handeln der Gott­heiten, das die Mysten in den der "Heiligen Erzählung" eines Mythos erlebten,verband sich mit einer sehr persönlichen Heilssuche. Die/der in die Mysterien eingeweihte Gläubige wusste, dass weder durch eine bloße Mitgliedschaft, noch durch Selbst­demüti­gung dieses Heil gefunden werden konn­te. Der "Weg" war ein Wachstumsprozess, der sich nicht linear, sondern in einem Umkreisen der göttlichen Geheimnisse vollzog. Die Anhänger/innen der Mysterien aus allen gesellschaftlichen Schichten (6), übten weiterhin ihre beruflichen und häuslichen Aufgaben aus und suchten keine allein auf das Jenseits ausgerichtete Erlösung, sondern Erfahrung des Göttlichen im "Hier und Jetzt". Dazu war auch ein waches ethisches Bewusst­­sein gefordert. In den Tiefenerfahrungen des Göttlichen waren die Mysterienreligio­nen dem Chris­tentum durchaus überlegen. Heute verwirklicht nur die 1976 von Lawrence Durdin-Robertson und seiner Schwester Olivia gegründete Fellowship of Isis die Idee einer Mysterienreligion. (7) Sie verzichtet dabei aber auf Geheimhaltung von Riten und bekennt sich damit zu einer Grundidee der Moderne, nämlich der freien Zugänglichkeit zu allen Quellen und Texten. Im Unterschied zu traditionellen esoterischen Verbünden(z. B. Freimaurer, Rosenkreuzer) hat sie den Ballast patriarchalischer Denkstrukturen hinter sich gelassen und den Zugang zur Göttin-Erfahrung in der Alten Welt wieder freigelegt.

Wenn wir uns der Göttinspiritualität nähern, dann zeigt sich erst einmal, dass vertraute Begriffe uns nicht weiterhelfen. Wo sind eigentlich die unumstößlichen Quellen unserer Religiosität? Auf welche Autorität(en) können wir uns berufen? Wir merken sehr bald, dass unsere erste und wichtigste Führungsinstanz die persönliche Erfahrung ist. Diese Erfahrung ist aber keineswegs "freischwebend". Auslösend sind meistens konkrete Erlebnisse: So kann durch eine Reise nach Kreta oder Malta die Erfahrung frühgeschichtlicher Zeiten "herüberwehen", die Beschäftigung mit hinduistischer oder buddhistischer Religion kraftvolle Bilder der hier wirkenden Göttin(nen) hervorrufen oder hinter demBild einer Madonna die segen­spen­dende Isis mit dem Horuskind sichtbar werden. Es gibt eine Fülle von Einstiegspunkten, durch die die Göttin das Herz berühren kann. In unserer Kultur ist es nicht selten die Gestalt der Sophia, die uns hilft, den Spiegel der Göttin, "dessen Scherben durch Raum und Zeit gefallen sind"(8) wieder zusammen zu setzen.

Bisweilen entsteht die Frage, ob es einen "Glauben an die Göttin" gebe. Wenn damit die oben genannte innere Erfahrung gemeint ist, so möge man das so nennen. Diese Erfahrung ist zwar individuell, kann aber in kleinen religiösen Gemeinschaften durchaus bestärkt und vertieft werden. Ist darunter allerdings eine gehorsame und unterwürfige Einstellung zu verstehen, mit der sich der einzelne Mensch an Autoritäten oder an vermeintlich sichere Überlieferungen klammert, dann ist dieser Begriff"Glaube" abwegig.

Überlieferungen gibt es für die Göttin-Bewegung zwarin großer Zahl, angesichts der Fülle weltweiter Mythen. Aber diese Mythen fordern keinen "Glaubensgehorsam" in der Art des Christentums, sondern sind Einstiegspunkte für ein Verständnis dessen, was verschiedene Zeiten und Kulturkreise vom Handeln der Gottheiten zu sagen wussten. Im Prinzip ist der Mythos eine heilige Überlieferung, wie Thora, christliche Bibel und Koran, aber kein normierter Kanon wie diese Schriften. Mythen sind vergleichbar mit den Fenstern eines großen Hauses, durch die sich unterschiedliche Blicke in die freie Landschaft bieten. Nicht jeder Blick wird für alle von gleicher Bedeutung sein. Verbindlich wird nur das, was "ein­leuchtet", und wir merken sehr schnell, wo unsere eigene geschichtlich-kulturelle Prägung uns entweder zustimmen oder ablehnen lässt.

Es besteht allgemeiner Konsens, dass die Göttin nichtüber die Kräfte der Natur und der menschlichen Lebenszusammenhänge herrscht. Sie ist vielmehr tief in diese eingebettet, es sind Lebensäußerungen ihrer selbst. Sie selbst ist Wachstum und VergehenEine Anrufung aus der Wicca -Tradition (9) kennt folgenden Liedtext: By the earth, this is Her body mother of us all… By the air, this is Her breath…sweet wind of life… By the fire of Her bright spirit, shining candles in the night…By the waters, this is Her blood, by the waters, the calm and the flood…

SIE selbst ist auch Beziehung in allen ihren Varianten. Insofern sind auch die Mythen, die von einer Vereinigung von Göttin und Gott sprechen von einer tiefen Sinnhaftigkeit: Das "mysterium coniunctionis" (das Geheimnis der Vereinigung) ist ein kosmischer Akt, der sich in menschlicher Liebe widerspiegelt und diese in besonderer Weise vergöttlicht, ohne sie dabei allerdings an institutionelle Bedingungen zu binden.

Im Unterschied zu den streng monotheistischen Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam ist die Göttin in einem Beziehungsfeld zu sehen: Immer wieder erzählen die Mythen auch von einem göttlichen Partner und einem göttlichen Kind - letztgenanntes Motiv wurde in das Christentum übernommen.

Es drängt sich nun die Frage nach einem ursprüng­lichen und letzten Prinzip auf. Einige Wicca - Anhänger scheinen von einer uranfänglichen, richtiger gesagt metaphysischen, Dualität auszugehen. Andere Stimmen, sie kommen aus der feministischen Bewegung, versuchen am Ursprungsprinzip der Göttin festzuhalten und entwickeln ein Erklärungsmodell, nach dem der Gott sterblich sei und nur in der Kraft der Göttin lebe. Beide Vorstellungsmodelle befriedigen mich nicht. Ich möchte als Verständnismodell das Bild einer Doppelspirale vorschlagen: Es existiert ein metaphysischer Ursprung, nämlich eine sich entfaltende Spirale, die sich in einem bestimmten Augenblick gegenläufig verhält und sich wiederum zu einer neuen Spirale einrollt. So geht aus der weiblichen Gottheit die männliche hervor, aber nicht im Sinne eines Schöpfungsaktes, sondern eines ewigen Geschehens, wobei dieser Prozess auch reversibel sein kann (=Tod des Heros im Mythos).

Daher lässt sich auch sagen: Wo die Göttin erscheint, ist der Gott entweder explizit oder im­plizit gegenwärtig. Das Männlich - Göttliche kann auch verborgen in der androgynen Göttin ruhen, etwa in der Jägerin Artemis oder in der Erscheinung von Isis, die von sich sagt: "..die ich in mir die Gestalt aller Götter und Göttinnen vereine". Die gnostische Allgöttin bezeichnet sich als "Vater und Mutter" und als "mann - weiblich".

Diese Grundüberlegungen kommen auch im Manifest der Fellowship of Isis (F.O.I.)/ Gemeinschaft der Isis (s.o.) zum Ausdruck, wenn davon gesprochen wird, dass die Verehrung der Göttin auch für sich allein erfolgen könne, die Verehrung des Gottes aber immer in Verbindung mit der Verehrung der Göttin stehen müsse (Rückbindung = religio an den kosmischen Ursprung).

Ein solches Verständnismodell, mehr kann es nicht sein, trägt weitaus mehr Sinnerfahrung in sich, als das Bild einer christlichen Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn und Geist, die in einem ewigen Liebes­akt zueinander in Beziehung treten. (Bezeichnenderweise rügen Judentum und Islam dieses Gottesbild als nicht monotheistisch.) Nur die Jahrhunderte währende christliche Sozialisation mit streng dogmatischen Vorgaben, konnte diesem Modell eine gewisse Anerkennung verschaffen, zumal sie mit einer "Heilsökonomie" verbunden wurde: Vater = Schöpfer, Sohn = Erlöser, Heiliger Geist = Heiligung, Kirche, Sakramente. 

Die westliche religiöse Sozialisation ist so sehr von überlieferten Gottesbildern und philo­so­phischen Gottesbegriffen geprägt, dass alle Abweichungen unter Rechtfertigungszwänge gesetzt werden. Dabei ist es von der Grunderfahrung jedes einzelnen Menschen her gesehen ganz einfach: Es ist die Mutter, mit der der Embryo symbiotisch verbunden ist, die es durch den schmerzhaften Akt der Geburt in die Sinnenwelt bringt, von der das Neugeborene die erste Nahrung erhält, mit der das kleine Kind die ersten Schritte ins Leben wagt und mit der es in vielfältiger Weise kommuniziert; von seltenen Ausnahmen abgesehen, ist sie es auch, die dem Kind Verständigung ermöglicht, so dass wir von Muttersprache reden, nicht von Vatersprache. Erst mit den entfernteren Begriffen tritt die Vaterwelt stärker in Erscheinung (z. B. Vaterstadt, Vaterland). Über die individuelle Erfahrung hinaus aber wirken meistens noch viel stärker die archetypischen Muster, die sich mit den Begriffen "Mutter" und "Vater" verbinden. Gerne wird an dieser Stelle eingewendet, dass die geschilderte Mutterbindung nur eine Durchgangssituation im Leben jedes Menschen sein könne und dass es der Vater sei, der die notwendige Ablösung von der symbiotischen Mutterbindung zu leisten habe. An die Stelle der Mutterwelt müsse die Vaterwelt treten. Aber auch die Vaterwelt kann auf dem Wege der Individuation, also der Selbstwerdung, nur ein vorübergehendes Stadium sein. Beides muss der Mensch bei einer wachsenden Reifestufe integrieren, nicht verdrängen oder "hinauswerfen".(10) So ist also die "Begegnung mit die Göttin" Teil eines Individuationsprozessesund keine regressive Lebenseinstellung, sie verlangt Frauen und Männer, die für sich Verantwortung zu übernehmen. Die andere Seite diese Prozesses ist allerdings auch, sich nicht dem heute so verbreiteten Machbarkeitswahn hinzugeben und Vertrauen in das Leben zu entwickeln. 

Es wäre freilich eine Verengung, die Göttin nur im Bild der Mutter zu sehen. Sie zeigt sich in vielen "Gesichtern": Auch als Jungfrau und als Geliebte, als Kind und als weise Ratgeberin, als Schöpferin und als Zerstörerin u.v.a.

Göttinspiritualität ist eine Grenzen überschreitende Religiosität undüberwindet die begrifflichen Grenzen von Monotheismus und Polytheismus. "Sie" ist "die eine in allem" ("una, quae est omnia" - ein Göttinprädikat in den Isismysterien), sie ist "Die mit den zehntausend Namen" (myrionymos). So offenbart sich Isis dem Lucius in dem antiken Roman "Metamorphosen"(auch als der "Der Goldene Esel" überliefert) mit folgenden Worten: "Ich Allmutter Natur, Beherrscherin der Elemente, erstgeborenes Kind der Zeit...ich die in mir die Gestalt aller Götter und Göttinnen vereine...Die alleinige Gottheit, welche unter so mancherlei Gestalt, so verschiedenen Bräuchen und vielerlei Namen der ganze Erdkreis verehrt..." (es folgt die Aufzählung von Völkern und Gottheiten).

Göttinspiritualität stellt somit die befreiende Alternative zu dem einengenden exklusiven Monotheismus christlich - abendländischer Tradition dar ("Ich bin Jahwe dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben" - Sogenanntes 1. Gebot, das den Israeliten auferlegtworden war).

Es ist sicher Ansichtssache, ob man von einem inklusiven Monotheismus sprechen möchte, also einer integrativen Form von Göttlichkeit oder von einer vielgestaltigen göttlichen Erscheinungswelt, hinter der ein einziges schöpferisches Prinzip steht, "wir dürfenes als die Mutter der Welt betrachten, doch ich kenne ihren Namen nicht, ich bezeichne es als Tao" sagt Lao Tse ein­mal in seinem berühmten Buch Tao te king.(11) Letztlich sollten wir uns nicht an diese Definitionsfragen klammern. Begriffe sind nur insofern hilfreich, als sie das, was wir als tiefe Ahnung in uns tragen, veranschaulichen und mitteilbar machen. Die eine Sonne, die unser Sonnensystem erleuchtet, kommt in vielen Strahlen in unserer Atmosphäre an und ruft jeweils ganz unterschiedliche Temperaturen hervor. Und bleiben wir beim Licht: Ob wir es als Korpuskel oder als Welle betrachten - beide Standpunkte sind richtig und sollten sich gegenseitig ergänzen. 

Wichtiger erscheint mir ein anderer Gesichtspunkt: In der Geisteswelt des 21. Jahrhunderts können wir nicht mehr so unbefangen von Polytheismus sprechen, wie es in Wicca-Kreisen geschieht.(12) So verständlich es ist, wenn hier versucht wird, der Begriffsdominanz des Christentums etwas Eigenständiges entgegenzusetzen - die angebotenen Alternativen müssen im Bewusstseinshorizont unserer Zeit liegen! Das bedeutet, dass die vorgeschlagene Alternative nicht einfach durch geschichtlichen Rückgriff erfolgen darf und ein differenziertes Bild des Göttlichen aufweisen muss.

Der Gründer (13) von Wicca, Gerald Gardner, der auch von Aleister Crowley unterstützt worden sein soll und der aus der okkult-magischen Szene kam, kann keinesfalls als ein Repräsentant von Göttinspiritualität angesehen werden. Auch waren seineVorstellungen, heidnische Kulte wieder aufgespürt zu haben, mindestens starkübertrieben. Erst durch die verdienstvolle und fundierte Arbeit von Doreen Valiente (erste Hohepriesterin bei Gardner) trat die Göttin in das Zentrum des Wicca - Kultes mit seinen weitgehend voneinander unabhängigen "coven". Auf Gardner und seinen engeren Kreis (Gardnerian-Wicca) geht auch die Faszination mancher Wicca-Gruppen für Sexualmagie zurück, die u.a. bei "Initiationen" praktiziert wird. Diese als Initiationsakt (!) real vollzogene Sexualmagie zeigt nicht nur unreife Züge, sie verzerrt auch die rituellen Beziehungen zwischen Frauen und Männern und leistet einer verdeckten patriarchalischen Dominanz Vorschub. (14)

Unter einem feministisch geprägten Erfahrungshorizont wirkten Zsusanna Budapest und Starhawk (Miriam Simos). Während sich Budapests magische Arbeit nahezu ausschließlich auf Frauen konzentriert, veranstaltet Starhawk auch öffentliche Rituale mit einem größeren Teilnehmer/innenkreis - im Unterschied zur Wiccatradition. Ihre Arbeit hat auch starke politische Akzente ("Das Spirituelle ist das Politische") und wird gerne unter den Begriff "Ökofeminismus " gestellt. Die symbolreichen undkraftvollen Ritualtexte, in einer poetischen Sprachform gestaltet, werden gerne von Gruppen, die sich heute neu gründen,übernommen. Gelegentlich wäre allerdings ein Mehr an existenzieller Tiefe wünschenswert.

An dieser Stelle muss auch der Begriff "Neuheidentum" kurz beleuchtet werden.(15) Ich sehe diesen Begriff ambivalent: Positiv erscheint mir daran, dass damit wieder eine Tür geöffnet wurde, die durch christliche Indoktrination Jahrhunderte lang fest verschlossen schien. Der Übergang von den antiken,keltischen und germanischen Religionen zum Christentum wurde in traditioneller Kirchendoktrin in unhistorischer Weise mystifiziert und zur "Zeitenwende" erklärt, zu einem unumkehrbaren Prozess (lineares Denken!). Die Beschäftigung mit vorausgehenden Religionsepochen durften allenfalls Sache von Fachwissenschaftlern, nicht aber Thema einer existenziellen Auseinandersetzung sein (16). Verschleiert wurde auch die ganz offensichtliche Abhängigkeit christlicher Riten und Feste vom antiken Erbe (17), insbesondere von den Mysterienreligionen. Selbst die im Neuen Testament ausführlich behandelte Funktion des Christus als eines Retters und Erlösers ist ohne den Hellenismus und die Mysterienreligionen nicht denkbar. 

Problematisch hingegen erscheint mir allerdings die Vorstellung, man könnte numinose und divinose Erfahrungen vergangener Zeiten einfach übernehmen, ohne sie mit dem Bewusstseinshorizont unserer Zeit konfrontiert zu haben. Erst in dieser Auseinandersetzung gewinnt Göttinspiritualität ihre eigentlichen Konturen. Diese innere Einheit kommt vor allem in den Riten der Fellowship of Isis zum Ausdruck.(18) Sie ist als eine zeitlich-räumlich universelle Göttinreligion konzipiert und hat damit einen ökumenischen Charakter.

In den christlichen Kreisen, die durch die feministische Theologie beeinflusst sind, ist es seit ein bis zwei Jahrzehnten üblich geworden, in Gottesdiensten und Andachten "Gott" auch in Verbindung mit dem weiblichen Artikel "Sie" zu gebrauchen - zum Schrecken vieler konventioneller Kirchenchristen! Die Urheberinnen dieser Wortwahl haben dabei zwei Aspekte im Auge: Den krassen Ausschluss der Frau aus dem Bild des Göttlichen (19) wenigstens zu mildern und das grundsätzlich Unsagbare des Göttlichen nicht durch einem einseitigen Sprachgebrauch zu verengen. Letztlich scheitern alle diese gut gemeinten Versuche an der absoluten Dominanz nicht nur männlicher, sondern ausgeprägt patriarchalischer Gottesbilder in den biblischen Texten - nicht nur des sogenannten Alten Testamentes. So wurde der Eigenname des Gottes Jahwe konsequenterweise im Judentum und im Christentum nicht nur mit "Herr", sondern mit "der Herr" wiedergegeben. ("So spricht der Herr", die geläufige prophetische Botenformel). Die wenigen Abweichungen von einem herrscherlichen Gottesbild machen nicht einmal ein Prozent der gesamten Texte aus, in denen "vom Handeln Gottes" gesprochen wird und stellen die grundlegenden Gottesbilder der israelitischen und der späteren jüdischen Tradition nicht in Frage. Es ist nicht zu übersehen, dass der biblisch-alttestamentliche Gott vorwiegend in herrscherlichen, richterlichen und aggressiv unduldsamen Kategorien erscheint und inden späten und endgültigen Texten außerhalb aller Naturzusammenhänge steht. (20) Aus religionsgeschichtlicher Sicht bleiben also die gut gemeinten Versuche kirchennaher Feministinnen (z.B. Susanne Heine) fragwürdig, es sei denn, sie begäben sich auf "Spurensuche" nach der im späten Israel verdrängten Göttin. Für die gegenwärtige Göttinbewegung sind daher Modelle und Begriffe, die aus biblischen und kirchlichen Texten stammen, meistens unzulänglich.

Es gibt jedoch eine wichtige Ausnahme: Im Begriff der Sophia, der "Heiligen Weisheit", existiert eine segenspendende Kraft, die - oft unerkannt - patriarchalische Religiosität durchzieht. Sie tritt als geheimnisvolle "Frau Weisheit" in den spätesten alttestamentlichen Schriften hervor, Jesus aus Nazaret beruft sich auf ihre Worte, die Gnostiker verehren sie und christliche Mystiker/innen fühlen sich mit ihr verbunden. Sie ist keine dominante, aber auch keine nur dienende Gestalt. In ihrem Wesen ist sie eine Offenbarungsweise der Göttin, die Konfessionen, Religionen und Kulturen versöhnt, Konflikte entschärft und Verletzungen heilt. Diese Eigenschaft zeigt sie dadurch, dass sie sich auf der (verborgenen und doch wirksamen) Sinnebene bewegt. Ein Mythos, der in unserer Zeit erzählt wird, sieht in Sophia die Tochter der Großen Göttin, die zu den Menschenkindern gesandt wird, um Versöhnung zu bringen.

Die feministische Theologie hat unterschiedliche Ausprägungen entwickelt und die unerschrockenen Vertreterinnen dieser seit 30 Jahren bestehenden Theologie haben nicht unerheblich die Göttinbewegung gefördert und weiterentwickelt. In engem Kontakt zu biblischen Texten, jedoch in kritischer Distanz zu der darin enthaltenen männlichen Anthropozentrik und Machtentfaltung entstanden z. B. wichtige Erkenntnisse zur Entstehung von alt- und neutestamentlichen Texten, zur Symbolgeschichte und zur gesellschaftlichen Stellung der Frau in der Alten Welt. Die im Alten Israel verdrängte Göttin wurde eingehend thematisiert und führte auch zu neuen Ritualen in Frauengruppen, die im Unterschied zu der o.g. Ausprägung den Mut haben, in Distanz und Konflikt mit ihren Herkunftskirchen zu leben. Ihre Hauptverteterinnen sind: Catharina Halkes, Elisabeth Moltmann-Wendel, Christa Mulack, Gerda Weiler, Elga Sorge, Carol Christ, Mary Daly, Elisabeth Schüssler-Fiorenza u.a.. Eine in Ostasien besonders bemerkenswerte Frau ist Chung Hyung Kyung, eine koreanische Theologin. Alle Genannten haben durch ihre Publikations-, Vortrags- und Workshoparbeit viel Resonanz (und viel Kritik) erfahren. Leider scheinen immer noch zwischen paganen Kleingruppen und feministischen Theologinnen gewisse Berührungsängste zu bestehen.

Ein Teil der Anhängerinnen der Göttin verwendet gerne die Selbstbezeichnung "Hexe". Als Symbolbegriff verstanden meint das Wort: Wie die germanische und althochdeutsche "haga­zussa" (die im Hag = an der Grenze des bebauten Landes Lebende, die "Zaunreiterin"), ist die Hexe gleichzeitig in zwei Welten, der sinnlich-realen und der magischen Welt zuhause. Auf dieser Ebene kann der Begriff sehr sinnvoll sein und vor allem den magischen Aspekt der Göttinbegegnung hervorheben. Auch als solidarische Rückbesinnung auf die "Zeit der Verzweiflung" (=Hexenverfolgung des 13. bis 17. Jahrhunderts) ist "Hexe" - sowohl für Frauen als auch für Männer gebraucht - recht bedeutungsvoll. Historisch unbegründet ist freilich die von Margaret Murray aufgestellte These (21) einer kontinuierlichen heidnischen Religion, die sich von frühesten Zeiten durch Mittelalter und Neuzeit erstreckt habe und deren Priesterinnen als Hexen bis in die Gegenwart geheime Riten gefeiert hätten.

"Ich, Allmutter Natur": Mit dem Pantheismus kann die Göttinspiritualität sehr gut umgehen, im Unterschied zu den westlichen patriarchalen Religionen, in denen immer wieder gerade Mystiker wegen "Pantheismusverdacht" verurteilt und sogar hingerichtet wurden(22). Die Mystiker waren große Liebende, die von ihren (westlichen) Religionsgemeinschaften meistens missachtet oder wenigstens an den Rand gedrängt wurden. Ihre Erfahrungen von der Einheit mit dem Göttlichen passten nicht in das religiöse Konstrukt eines rein überweltlichen und allmächtigen Gottes, dessen Wille alles regiert und voraussieht.(23) 

Daher verwarfen die orthodoxen Kirchenmänner auch den Panentheismus, eine religionsphilosophische Aussage, die bedeutetdass das Göttliche seinenPlatz ganz in diesem Kosmos hat und dass es keinen "Sonderort" mehr dafür gibt. Das Dogma der monotheistischen Weltreligionen hängt damit zusammen, dass "Gottvater" - der im Prinzip immer ein Herrscher­ ist - als überhöhtem Wesen ein eigener, "himmlischer" Bereich entsprechen muss: "Der Himmel ist mein Thron, die Erde der Schemel meiner Füße..."(24). Mit der Verfluchung des Pan­the­ismus ging eine tiefe Bewusstseinsspaltung einher, die zur Abwertung der Erde, der gesamten Natur, der Sinnenwelt und auch der Frau führten. Die schmerzliche Erfahrung der westlichen Mystiker, die tiefe Einheitserfahrungen mit dem Göttlichen machen durften und dabei ständig unter Häresieverdacht gerieten, ist in der Göttinspiritualität aufgehoben: Der göttliche Energiestrom ist nie unterbrochen, "Sündenangst" und Ohnmachtsbewusstseinwerden gegenstandslos (s.u.). Das Lebensgefühl der Verwobenheit mit dem Leben der Göttin kommt sehr schön in einer Meditation zur Vertreibung von Furcht zum Ausdruck, die Zsusanna Buda­pest entwickelt hat (25).

Darin gibt die Göttin die Zusage:

Du bist ein Kind des Universums

Ich verleihe dir meinen allmächtigen Schutz.

Du erglänzt von Kopf bis Fuß in goldenem Licht

Du bist mein erwähltes, beschütztes Kind, und ich bin dein Schild

Winde beflügeln deinen Fortschritt.

Wasser reinigt dich von aller Furcht.

Feuer werden dich von Zweifeln läutern,

und die Erde nährt und heilt dich.

Alles ist gut, alles ist gut, alles ist gut.

In die Ich-Form gebracht (ebf. durch Z. Budapest) ergibt sich ein meditatives Gebet von großer suggestiver Kraft. 

Die Frage "Person oder unpersönliche Kraft und Energie? "erweist sich danach als eine falsche Alternative. Wenn man unter Person kein Lebewesen versteht ("die Göttin ist keine Frau, der Gott ist kein Mann"),sondern ein aus einem Zentrum heraus handelndes, verstehendes und mitfühlendes Wesen, dann ist die personale Seite der Göttin nicht in Zweifel zu ziehen. Ansonsten wären alle Anrufungen und auch die zahlreichen Gebete nicht sinnvoll. Aber natürlich trifft auch die andere Seite zu: Energie, Kraft, "Innewohnen" in allen sinnlichen und geistigen Erfahrungen. Person und Kommunikation, das ist die wunderbare Verbindung, die uns in verschiedenen Lebenslagen bewusst wird.

Auch hier zeigt sich die systemüberwindende Kraft der Göttinspiritualität. In ihr atmet nicht nur die personale Nähe westlicher Glaubenserfahrung, sondern auch die transpersonale Weite östlichen Denkens. Sie ist damit wahrhaft ökumenisch und universell, in östlichen wie in westlichen Kulturkreisen praktizierbar.

Die "Eigenschaften" der Göttin entfalten sich aus dieser Verbindung von Person und Kom­munikation und verwirklichen sich im Beziehungsfeld zum menschlichen Bereich. Das wichtigste Merkmal ist ihre Allverbundenheit. Insofern ist sie unbegrenzte Kommunikation und Liebe. Die Liebe der Göttin lebt jedoch nicht außerhalb der Naturordnung und der kosmischen Gesetze, die von Werden und Vergehen bestimmt sind. Die Göttin "handelt" im Rahmen der Evolution. Werden ist nicht "Schöpfung aus dem Nichts", sondern Gestaltung und Höherentwicklung aus Vorhandenem, Vergehen ist ebenfalls kein Rückfall ins Nichts, sondern Verwandlung nach einem geheimen Sinn. "Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinns ewige Unterhaltung" , um ein Wort von Goethe zu zitieren. In diesen Kräften wird die Göttin selbst präsent, wenn sie in dreifacher bzw. dreifaltiger Gestalt erscheint: Als Geheimnis des Anfangs d.h. als Jungfrau-Göttin (weiße G.), als entfaltete Lebensform in der Geliebten und Mutter (rote G.) und als sich neigende Lebensform in der Weisen Alten (schwarze G.).

Wir brauchen uns auch nicht ängstlich an die Vorstellung von Schöpfungsakten zu klammern, wie in patriarchalischen Religionssystemen: "Schöpfung" ereignet sich immer; sie ist mit jeder Veränderung gegenwärtig. Das Geheimnis des "Anfangs" ist ohnehin nicht zu enträtseln. Ein einziges Bild ist dafür nicht aussagekräftig; nein -nur durch eine Fülle von mythologischen Bildern kann es umkreist werden. Eines der schönsten ist das der tanzenden Göttin, unter deren Schritten sich Land und Meer trennen. Wichtig erscheint mir die unauflösbare Verbindung der Göttin mit allem Existierenden: Sie, die den Kosmos gebiert, bleibt damit in einer ständigen lebendigen Beziehung.

Ein gleichnishaftes Abbild für diese Verbundenheit stellt der weibliche Zyklus dar. Er ist die einzige Erfahrungsweise, Leben und Schöpfungskraft durch Blut zu ermöglichen. Jedes patriarchale "Blutopfer", ob im Krieg oder auf dem Opferaltar ist naturverachtend und somit zerstörerisch, erst recht, wenn es sich um sogenannte "Heilige Kriege" handelt. Der weibliche Zyklus wird daher in der Göttinreligion auch einen kultischen Stellenwerteinnehmen.

Als geheime Kraft der Evolution ist sie auch Sinngeberin und Sinnstifterin; das, was wir in der Natur empirisch erfahren können, wird im eigenen Leben zur Sinnsuche und damit zum Selbstfindungsweg. Ihre Zuwendung zu allen Kreaturen zeigt sie als Inbegriff der Barmherzigkeit, aber die andere Seite der Sinnstiftung bedeutet auch, dass kein Wesen dauernd in seiner Gestalt bleiben kann; die Göttin ist auch Verwandlerin und sogar Herausforderin, weil wir die Prozesse von "Vergänglichkeit", Veränderung und Tod fürchten, die unsere Identität zu gefährden bzw. aufzulösen scheinen. Vertrauen wir auf die geistige Evolution, die uns in eine neue Existenz verwandelt und die Chance zu höherer Entwicklung enthält.

Wenn Frauen und Männer in das Beziehungsfeld der Göttin treten, dann kann der Begriff "Gnade" nicht ausgespart bleiben, auch wenn er im Christentum verengte Konturen angenommen hat. Gehen wir zurück auf den griechischen Wortsinn von "charis", so ist damit Huld und Zuwendung, auch Freude und Schönheit gemeint. Es ist so, als ob eine dichte Wolkendecke reißt und das Sonnenlicht voll hervortritt. Das hat nichts mit Sündenangst und Minderwertigkeit zu tun; es liegt an uns, ob wir bereit sind, göttliches Licht in unser Inneres zu lassen. Die ersten Schritte müssen wir aber schon selbst tun! Das gilt auch im Verhältnis zum Karma. Wenn wir davon ausgehen, dass unser Selbst oder eine Instanz davon nicht ohne eine Prägung in dieses Leben tritt, dann vollzieht sich in jedem Lebensprozess ein Wechselspiel von Karma, Gnade und freiem Willen, d.h. von Entscheidungen, die sich vor einem Hintergrund von Belastungen und Chancen abspielen und sich gleichzeitig zur Gnade hin öffnen können.

Manchmal taucht in der Göttinspiritualität auch der Begriff "Allmacht" auf, der mir jedoch problematisch erscheint.(26) Denn die patriarchalische Religiosität ist eng mit einem Wechselspiel von Allmacht und Ohnmacht verknüpft. Menschliche Entwicklung wird dadurch behindert, infantile Abhängigkeit genährt und ein Unterwerfungsmuster gezüchtet. Die "Macht und die Herrlichkeit" auf der religiösen Ebene hat immer noch zur Widerspiegelung im gesellschaftlichen Bereich beigetragen, hat Hierarchien begünstigt und Selbstentfremdung gefördert. Ich setze der Vorstellung von "Allmacht" die Allverbundenheit (s.o.) und der Vorstellung von der "Allwissenheit", die Idee eines spontanen (dabei sinnerfüllten!) Werdens entgegen: Alles, was sich vollzieht, ist erst im Augenblick seiner Entstehung definiert, also weder vorausbestimmt noch vorausgewusst, was aber Naturgesetze nicht aufhebt, sondern nur deren absoluten Charakter begrenzt.(27) So können wir uns zugleich von den "Gottesprojektionen" befreien, die der Mensch der Moderne durchschaut und die eines der größten Hindernisse sind, sich wieder an das Göttliche hinzugeben. (28) Im Anklang an buddhistisches Denken möchte ich auch gerne das Bild verwenden, dass es etwas gibt, was aller Substanz zugrunde liegt und diese erst ermöglicht: So ermöglicht erst die Stille den Klang oder die Leere das geformte Sein.

Das Leitbild aller patriarchalischer Religiosität ist der gehorsame Mensch, nicht der fragende und nicht der zweifelnde. Ich setze an die Stelle des Gehorsams die Einsicht, so dassan dieser Stelle der befreiende Aspekt der Göttinspiritualität besonders zum Tragen kommt. (29)

Befreiend ist gewiss auch, dass überlieferte Begrenzungen des Denkens und Fühlens aufgehoben werden. An einigen Beispielen sahen wir bereits, wie fixierte Begriffe ihren Sinn verlieren und aufgelöst werden. Die Verbotsschilder unserer geistlichen "Wächter" werden so sinnlos wie deren Amt. Man denke nur an deren Warnungen vor "Esoterik", vor Astrologie und Magie. Richtig ist allerdings, dass alte Abhängigkeiten nicht durch neue ersetzt werden sollten! Aber wer Astrologie, Tarot und andere esoterische Künste als einen Selbstfindungsweg und Magie als eine verfeinerte Wirklichkeitserfahrung praktiziert, der begegnet der Göttin in Gestalt der Weberin, jener weisen Alten, die unseren begrenzten Blick auch auf zukünftige Dinge richtet. Wer die Mysterien feiert, trifft auf die Initiatorin, die in tiefere Seinserfahrungen hineinführt (z.B. durch eine Einweihung), wer meditiert, vereinigt sich mit der Ermächtigerin, der Weisheitsgöttin Sophia.

Im Kosmos der Göttin haben auch mannigfaltige Geistwesen ihren Platz, wie Elfen, Sylphen, Nymphen als Naturgeister, Feen als "Zeitenweberinnen" und Engel als Boten spiritueller Wahrheiten. Es wird allerdings darauf ankommen, die Erfahrung solcher Wesen nicht völlig jenseits der Empirie anzusiedeln. Sie könnten mindestens am Rande eines offenen, "holistischen" Weltbildes ihre Bedeutung haben, insbesondere dann, wenn zwischen der mythologischen Einkleidung und einem tieferen Sinngehalt unterschieden wird. 

Grundsätzlich sind es fünf Wege, die zum Tempel der Göttin führen: Mythos, Magie, Meditation, Mysterien und Mystik. Grundsätzlich darf keiner dieser Wege ausgeschlossen werden - glücklich, wer sie alle durchschritten hat!

Nach diesen etwas komplexen Ausführungen erscheint es einfach, über die Ethik der Göttinspiritualität und das ihr gemäße Menschenbild zu sprechen.

Es ist leicht einsehbar, dass die massive Trennung des Menschen von der ihn umgebenden "Mitwelt" aufgehoben ist. An die Stelle der Anthropozentrik (30) der monotheistischen Weltreligionen und ihrer "Heiligen Bücher" tritt die Koexistenz und Partnerschaftlichkeit aller Geschöpfe. Aufgabe des Menschen kann es nur sein, einen Interessenausgleich zu schaffen, der sich am Prinzip des Ökologischen Gleichgewichts zu orientieren hat. Das schließt besonders den sparsamen Umgang mit nicht erneuerbaren Energien ein und einen massiven Einsatz von regenerativen Energien. Auf der Ebene des Zusammenlebens muss universelle Geschwisterlichkeit an die Stelle des Konkurrenzdenkens treten oder diesem wenigstens den Vorrang abnehmen. (Wie unendlich weit sind wir von dieser Perspektive noch entfernt!) "Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Glück". Diese Wort des Dalai Lama sollte richtungsweisend für globales Handeln sein. Krieg darf kein Mittel mehr zur Durchsetzung von einzelstaatlichen Interessen oder von Machtbündnissen sein. (31) Fairer Handel hat allen Staaten die Chance zu bieten, am Weltmarkt teilzuhaben. Letztlich muss eine sozial­ethische Perspektive gefunden werden, der persönlichen Arbeit wieder den Vorrang vor dem "arbeitenden" Kapital zu geben, genau umgekehrt zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem.

Auch auf der Ebene der Individualethik wird Göttinspiritualität zu einem Paradigmenwechsel ihren Beitrag leisten. Die Goldene Regel der Nächstenliebe: "Liebe deine(n) Näch­sten wie dich selbst", ein uraltes Weisheitswort spi­ritueller Meister (32) kann so lange nicht umgesetzt werden, als die Wege dazu nicht klar sind. Unter den Bedingungen von Konkurrenzdenken und Kontrolle, von Konsummentalität und Hedonismus ist sich jede/r selbst die/­der Nächste. Erst aus der Erfahrung der wechselseitigen Verwobenheit und der allseitigen Abhängigkeit kann Neues erwachsen. Somit ist auch kein schrankenloser Altruismus gemeint, sondern eine kluge Einsicht in Zusammenhänge. Hätten die westlichen Gesellschaften ihren Person-Begriff nicht so einseitig gepflegt, dann könnte das Wort auch lauten: Liebe deine(n) Nächsten als dein Selbst. Für beherzigenswert, aber zu wenig tiefgehend halte ich die geläufige Wicca-Regel: "Tue, was du willst, doch schade niemandem dabei."

Wichtig erscheint mir auch, dass der Mensch unserer Tage wieder ein erneuertes Zeitverständnis lernt, dass Frauen und Männer sich von der Vorstellung eines linearen Ablaufes der Zeit lösen und wieder den rhythmischen Wechsel der Zeit spüren lernen. Dazu hilft die Feier der acht Jahreszeitenfeste in besonderem Maße, aber auch das Begehen von Mondfesten kann fördernd sein. Das ganze Leben kommt dadurch wieder ins Fließen und tritt in Einklang mit der Natur, von der der Mensch selbst ja ein markanter Teil ist.

Es versteht sich ebenfalls von selbst, dass die Beziehungen von Frauen und Männern - befreit aus einer patriarchalischen Bewusstseinsstruktur - neue Qualitäten gewinnen.(33) Wenn einseitige Rollenzuweisungen und die damit für beide Geschlechter einhergehenden Einschränkungen fallen, dann wird Raum für emanzipatorische Prozesse, ganz gleich ob auf der praktischen, emotionalen oder mentalen Ebene. In diesen Prozessen werden jeweils auch "Weiblichkeit" und "Männlichkeit" in beiden Geschlechtern entwickelt und integriert.Auf der spirituellen Ebenewird allerdings von der Frauenbewegung manchmal übersehen, dass die Göttin der Frauen auch eine Göttin der Männer ist - mögen die Zugänge zu ihr auch geschlechtsspezifisch etwas unterschiedlich sein.(34) Die Göttin existiert nicht deshalb, weil Frauen ein Zentralsymbol für das weibliche "Sein in der Welt" benötigen, vielmehr ergibt das Sein der Göttin eine Hinweis darauf, dass es gerade die weiblichen Wurzeln sind, die bis in die Tiefen des materiellen und geistigen Universums reichen, bis dorthin, wo das reine Licht der Klarheit alle menschlichen Begriffe übersteigt.
 
 

 Nürnberg, September/Oktober 2002

 Dr. Günther Lucius Thomann

Anmerkungen

  1. Das habe ich in mehreren Texten meiner Arbeit "Begegnung mit der Göttin" versucht, ganz besonders in: "Thealogisches Bekenntnis. Die Eine, die in allem wirkt".
  2. Diese Metapher meint, dass der Weg nicht linear und überschaubar sein kann, sondern dem Gesetz der Spirale folgt.
  3. vgl. Matthews, Sophia, Göttin der Weisheit, Solothurn 1993 S.7
  4. Das ist in paganen Familien der U.S.A. und Englands der Fall, in denen eine entsprechende Tradition bereits etabliert ist. Im deutschsprachigen Raum gibt es dazu Ansätze.
  5. Die östlichen Religionen Hinduismus, Buddhismus und Taoismus haben den Mysterien­charak­ter gleichsam integriert, so dass er innerhalb der jeweiligen Hochreligion gelebt werden kann.
  6. Eine Reihe von römischen Kaisern war in eine oder mehrere Mysterienreligionen eingeweiht.
  7. Isis steht leitmotivisch für zahlreiche Gottheiten der Alten Welt und bildet nicht das ausschließliche Zentrum der religiösen Verehrung. Auch der Göttinkult aus anderen Zeiten und Kulturen wird aufgenommen.
  8. Matthews, Sophia 9 u. 399
  9. Robert Gass: The circle is cast; auf der CD: "Ancient Mother" (1993)
  10. Diese Überlegungen dürfen nicht als starres Schema angesehen werden: Ganz eindeutig sind Väter heute mehr als in früheren Zeiten imstande, mit ihren Kindern "mütterlich" umzugehen, sogar bisweilen eine Mutterrolle mit zu übernehmen; andererseits vermitteln Mütter heute ih­ren Kindern Werte aus der sogenannten "Vaterwelt". Beide Geschlechter sind imstande, jeweils mehrere archetypische Grundmuster zu verwirklichen. Wichtig erscheint mir aber da­bei, dass auf diesem Weg patriarchalische Strukturen aufgelöst werden.
  11. Zitiert (zusammen mit ähnlichen Stellen) bei Schaupp, Sophia S.195 f. u. bei Mulack S.104 f.
  12. Der Begriff ist von engl. witch = Hexe, weise Frau abgeleitet.- In ihrer Darstellung des modernen Paganismus "Drawing down the moon"(1979) stellt Margot Adler als zentrale Elemente vor: Polytheismus, Pantheismus und Animismus. Die große Mehrzahl der paganen Gruppen ist ihr auch bei dem ersten Gesichtspunkt gefolgt.
  13. Es gab bereits lange vor Gardner pagane Gruppen in England und den U.S.A., die bis weit ins 19.Jh. zurück reichen. Auch war durch Leland und Murray schon eine gewisse Theoriebildung einge­treten. Jedoch ist der Einfluss Gardners in den Jahren 1950-1964 beträchtlich gewesen. 
  14. Eine Initiation kann niemals in dieser Weise sinnvoll begangen werden, da sie ein vordergründiges Beziehungsgeflecht schafft, das nichts mit dem Wesen einer Einweihung zu tun hat. Wenn überhaupt,, dann könnte der "Große Ritus" mit den Festen Beltane (30.April) bzw. Litha (Sommersonnenwende) verbunden werden, dann aber als rein transpersonaler Akt im Dienste der Gottheit. Angesichts des spekulativen Charakters solcher Riten werden sie weder bei der F.O.I. noch der Mehrzahl (anderer) paganer Gruppen praktiziert.
  15. In Deutschland wird im Anschluss an den englischen Sprachgebrauch auch von "Paganen" und "Paganismus" gesprochen.(Lateinisches Grundwort paganus = Dörfler, Heidebewohner, "Heide".)
  16. Das kommt beispielsweise in der Schrift von Romano Guardini "Das Ende der Neuzeit" sehr deutlich zum Ausdruck, der einen Rückgriff auf das antike religiöse Erbe für unzulässig erklärt (Ausg. Würzb. 1950 S.110 ff.). Guardini argumentiert nicht kultur- oder geistesgeschichtlich, sondern mit einem dogmatisch starren Offenbarungsbegriff, der heute fundamentalistisch genannt werden könnte. Er weist dem kirchlichen Erlösungsglauben eine absolute Wahrheit zu und stellt "Christen" und "Nichtchristen" in einen unüberbrückbaren Gegensatz.
  17.  Sehr eindrucksvoll schildert diesen Sachverhalt Bernhard Klaus in: Antikes Erbe und christlicher Gottesdienst. Stuttgart 1998
  18.  Die internationale Mysteriengemeinschaft Fellowship of Isis balanciert diese Spannung sehr gut aus: Sie lehnt sich bei ihren Riten einerseits eng an historisch bezeugte Texte an, setzt sie in eine zeitgemäße Sprache um und lässt auch den Stimmungsgehalt der jeweiligen Feste mitschwingen.
  19.  Diese Ausgrenzung durchzieht alle maßgeblichen "Heiligen Schriften" von Judentum, Christentum und Islam.
  20. Der Alttestamentler Manfred Weippert ("Jahwe und die anderen Götter". Tübingen 1997. S.8 ff.)stellt heraus, dass die für Juden und Christen normativen Texte des Alten Testamentes zu­nächst einmal das Werk einer oppositionellen Minder­heit von Propheten und Priestern waren, die sich erst nach dem babylonischen Exil vollständig durchsetzen konnten.
  21. The Witch - Cult in Western Europe (1921). Mit ähnlicher Tendenz so auch Charles Leland, En­de des 19. Jahrhunderts.
  22. Verurteilt wurde u.a. Meister Eckehart mit einigen seiner Thesen, allerdings erst nach seinem Tode, so dass wir nicht wissen, ob er einen Ketzerprozess überstanden hätte oder ob er das schreckliche Geschick von Giordano Bruno, der in Rom lebendig verbrannt worden war ( i.J. 1600), erlitten hätte. Das gleiche schreckliche Geschick widerfuhr 1310 der französischen Beguine Maguerite Porete. Zum Tode verurteilt und grausam hingerichtet wurde der islamische Mystiker al Halladj (922) wegen seines Anspruchs, die Einheit mit Gott erfahren zu haben. Auch sein berühmter Nachfolger Rumi (13. Jh.) wurde von den orthodoxen Muslimen entsprechend verdächtigt.
  23. Für die großen Vertreter/innen mystischer Gottesliebe blieb, wenn sie nicht brutal aus ihren Religionsgemeinschaften vertrieben wurden, symbolisch gesprochen, meist nur das Kellergeschoss als Aufenthaltsort übrig. Im Christentum geht dies von Origines und verschiedenen Gnostikern bis zu Teilhard de Chardin. Auch für das Judentum (s. z.B. Spinoza) und den Islam lassen sich zahlreiche "Stiefkinder" auffinden. 
  24. Ein prophetisches Wort in Jes. 66,1
  25. Das magische Jahr. München 1996 S.38
  26. Wer für Riten und Anrufungen einen passenden Ausdruck für die große eruptive Lebensfülle von Göttin oder Gott sucht, sollte den Ausdruck "machtvoll" verwenden.
  27. Dies lässt sich auch aus der Theorie/Hypothese von Rupert Sheldrake über die morphogene­tischen Felder ableiten.
  28. Ludwig Feuerbach: "Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde, nach seinem Bilde schuf er ihn." Die erwähnten Projektionen knüpfen meistens an ein Lebensgefühl von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Leere an und postulieren ein Gottesbild, das alle erwünschten Eigenschaften in Vollkommenheit enthält. 
  29. "Die Göttin als Befreierin". Die emanzipatorischen Aspekte der Göttinspiritualität sollen in ei­nem eigenen Beitrag gewürdigt werden.
  30. Meint die Dominanz des Menschen gegenüber der Natur, wobei das Modell des Menschseins in einem patriarchalischen Männerbild gesehen wird.
  31. Es muss aber eine übergeordnete internationale Institution (UNO) die politische und moralische Autorität besitzet, einen militärischen Einsatz dann veranlassen können, wenn alle anderen Möglichkeiten gescheitert sind und ein Verzicht auf diese Mittel unverantwortliche Gefahren brächte.
  32. Diese "Goldene Regel" ist in praktisch allen Religionen verankert und keine spezifisch christliche Besonderheit.
  33. Aretalogien (=Selbstaussagen) der Isis in den antiken Mysterien geben bereits diese neuen Qualitäten vor: Dazugehört die wechselseitige Zuordnung von Frauen und Männern in gleich­berechtigter Partnerschaft und die Erziehung der Männer zur Liebesfähigkeit. So lautet eine Selbstaussage: "Ich habe bewirkt, dass die Frauen von den Männern geliebt werden". Einblick in solche Texte gibt u.a. Vera Zingsem in: Der Himmel ist mein, die Erde ist mein. Göttinnen großer Kulturen im Wandel der Zeiten. Tübingen 1997 S. 319-334.
  34. So beginnt die Erfahrung der Göttin bei Frauen oft mit der Entdeckung eigener Kraft und Stärke, die aus dem "Selbst" hervortritt, bei Männern hingegen mit einer verstärkten Sensibilisierung für innerseelische Prozesse - sei es bei sich, sei es bei anderen. Diese "Einstiegserfahrungen" verlangen aber im Laufe der Zeit eine Ergänzung durch andere Komponenten. 

Einführende Literatur

Da die Literatur sehr umfangreich ist, seien hier nur einige einführende Titel genannt, die als Basis für eine Vertiefung dienen können. 

Titel mit übergreifender Themenstellung:

Matthews, Caitlín: Die Göttin. Braunschweig 1992

Husain, Shahrukh: Die Göttin. Das Matriarchat, Mythen und Archetypen, Schöpfung, Fruchtbarkeit und Überfluss. München 1998

Lucius Merlin: Begegnung mit der Göttin. 2. verb. Aufl. 2002 

Aus feministischer Sicht:

Mulack, Christa: Religion ist zu wichtig, um sie den Männern zu überlassen. Die Göttin kehrt zurück. Stuttgart ca. 1998

Unter Bezug auf allgemeine und christliche Symbolik:

Schaupp, Susanne: Sophia. Das Weibliche in Gott. München 1994

Aus sozialwissenschaftlicher und kulturphilosophischer Sicht:

Whitmont, Edward C.: Die Rückkehr der Göttin. Von der Kraft des Weiblichen in Individium und Ge­sellschaft.München 1989

Zu Wicca und Naturreligion:

Crowley, Vivianne: Naturreligion. Was Sie wirklich darüber wissen müssen. München 1998

Wichmann, Jörg: Wicca. Die magische Kunst der Hexen. Geschichte, Mythen, Rituale. Berlin 1984

Zur Fellowship of Isis / Gemeinschaft der Isis:

Aus den zahlreichen Schriften nenne ich nur 2 Titel (zu beziehen über: fellowship_of_isis@online.de)

Robertson, Olivia: Die vestalische Flamme - das Lyceumskursbuch (The F.O.J.-Manual)

Robertson, Olivia: Dea. Die Rituale und Mysterien der Göttin (Liturgie der Fellowship of Isis)

Zu den historischen Mysterienreligionen:

Giebel, Marion: Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Griechenland, Rom und Ägypten. Zürich und München 1993

Kloft, Hans: Mysterienkulte der Antike. Götter, Menschen, Rituale. München 1999


Über den Autor
  22.08.1938    Geburt in Dresden
                                    1947              Umzug nach Kempten
                                    Juli 1958        Abitur
                                    1959 - 67       Studium in Tübingen und Würzburg
                                                           ev. und kath. Theologie, Germanistik, Philosophie und Volkskunde
                                   1968               Zusatzausbildung für Höheren Dienst an Wissenschaftlichen Bibliotheken
                                   04.07.1969     Philosophisches Doktorexamen
                                   Juni 1974        Dienstantritt in der Stadtbibliothek Nürnberg
                                   März 1993     Ernennung zum Bibliotheksdirektor
                                   24.07.1995    Eintritt in die Fellowship of Isis
                                   1999              Gründung des Iseums von Isis, Horus und Sophia
                                   2001              Ruhestand
                                   April 2003     Reise ins Sommerland
aus der Trauerrede:
Günther Thomann war Teil dieser Erde. Er war ganz und gar Mensch und Bürger dieses Planeten. Aber er war mehr als das. In seiner inneren, geistigen und spirituellen Wegstrecke hatte er seit vielen Jahren die ihm überflüssig scheinenden Begrenzungen von Dogmatik und verfasster Religion hinter sich gelassen. Evangelisch getauft, dann zum Katholizismus konvertiert. Beide konfessionellen Theologiestudiengänge durchlaufen. Und dann schließlich die Kirche verlassen. Günther Thomann hat den Gott der Kirche hinter sich gelassen, um seiner Verbundenheit mit dem Universum in anderer Weise Ausdruck zu geben. Er hat den Gott verlassen und die Göttin gefunden. Er ist den Weg gegangen von der Mutter Maria zu einer anderen Mutter, die den Namen lsis trägt In der “Fellowship Of lsis“ hatte er eine Gemeinschaft gefunden, die ihm eine innere Heimat wurde, um seine ganz persönliche Erfahrung des Göttlichen zu leben und zu formulieren. Die Göttin, die Mutter allen Seins, erlebbar im Kreislauf von Werden und Vergehen, in der Bewegung der Gestaltung und Höherentwicklung aus Vorhandenem, in der allgegenwärtigen und fortwährenden Schöpfung. Diese Mutter, diese Urkraft allen Lebens, wurde seine innere Säule, seine Stütze. Ihr hat er Ausdruck verliehen in seinen vielen Veröffentlichungen, in wissenschaftlichen Texten, aber auch in Gedichten und Gebeten.
Günther Thomann war ein Kind des Universums.
© Ernst Cran



© 2003 Bastet & Tefnut Iseum