Die Nornen gehören zu den Schicksalsgöttinnen, wie sie in vielen Kulturen verehrt wurden. Es gibt nur eine schriftliche Überlieferung, in der die Nornen erwähnt werden: die Edda (d.h. „Großmutter“), eine Sammlung von Liedern über die nordischen Gottheiten. Sie wurde vermutlich im 10./11. Jahrhundert im gerade erst christianisierten Island aufgeschrieben. Ich möchte zunächst vorstellen, was die Edda über die Nornen sagt, und dann jeden Abschnitt kommentieren.Wo ist der Götter vornehmster und heiligster Aufenthalt? … Das ist bei der Esche Yggdrasil: da sollen die Götter täglich Gericht halten. … Diese Esche ist der größte und beste von allen Bäume: seine Zweige breiten sich über die ganze Welt und reichen hinauf über den Himmel. Drei Wurzeln halten den Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen: …Unter der dritten Wurzel der Esche ist ein Brunnen, der sehr heilig ist, Urds Brunnen genannt: da haben die Götter ihre Gerichtsstätte; jeden Tag reiten die Götter dahin über Bifröst [die Regenbogenbrücke]… Das rote, das du im Regenbogen siehst ist brennendes Feuer. …
So steht ein schönes Gebäude unter der Esche bei dem Brunnen: aus dem kommen die drei Mädchen, die Urd, Skuld und Verdandi heißen. Diese Mädchen, welche aller Menschen Lebenszeit bestimmen, nennen wir Nornen. Es gibt noch andere Nornen, nämlich solche, die sich bei jedes Kindes Geburt einfinden, ihm seine Lebensdauer anzusagen. Einige sind von Göttergeschlecht, andere von Alfengeschlecht, noch andere vom Geschlecht der Zwerge …
… die guten Nornen, und die von guter Herkunft sind, schaffen Glück, und geraten einige Menschen in Unglück, so sind die bösen Nornen schuld.
(Gylfagynning, 15)Auch wird erzählt, dass die Nornen, welche an Urds Brunnen wohnen, täglich Wasser aus dem Brunnen nehmen und es zugleich mit dem Dünger, der um den Brunnen liegt, auf die Esche sprengen, damit ihre Zweige nicht dürren oder faulen. Dieses Wasser ist so heilig, dass alles, was in den Brunnen kommt, so weiß wird wie die Haut, die inwendig in der Eierschale liegt. … Auch nähren sich zwei Vögel in Urds Brunnen, die heißen Schwäne und von ihnen kommt das Vogelgeschlecht.
(Gylfagynning, 16)Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum netzt weißer Nebel;
Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt.
Immergrün steht er über Urds BrunnenDavon kommen Frauen, vielwissende,
Drei aus dem See dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine, die andre Verdandi:
Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose, das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen, das Schicksal verkündend.
(Wöluspa, Vers 19-20)
Sehr anschaulich wird hier erzählt vom Weltenbaum, der Esche Yggdrasil. Ein riesiger Baum, so groß, dass unter einer Wurzel das Haus und der Brunnen der Nornen Platz haben, und die Götter den Regenbogen als Brücke brauchen, um von der Baumkrone hierher zu kommen. Auf dem Brunnen (See) schwimmen zwei Schwäne, die Stammeltern aller Vögel. Und hier schöpfen die drei Frauen Wasser und Dünger und begießen seine Wurzeln, um den Baum – d.h. die ganze bekannte Welt – zu nähren und am Leben zu erhalten. Außerdem können die Nornen weissagen auf die damals bekannte Weise: indem sie Runen in Stäbe schnitzen und diese auslegen, um das Los (Schicksal) zu erfahren. Sie können das Schicksal nicht nur voraussagen, sondern zum Teil bestimmen.
Die Nornen werden meist gemeinsam genannt, sie scheinen sich in ihren Attributen und Aufgaben kaum zu unterscheiden. Am häufigsten wird Urd erwähnt, nach der ja auch der heilige Brunnen benannt ist. Das führte zu der Vermutung, dass sie die älteste, vielleicht auch die ursprünglichste der Nornen war, zu der die anderen erst später hinzugekommen sind. Grimm übersetzt ihre Namen als Urd, das Gewordene (Vergangenheit), Verdandi das Werdende (Gegenwart) und Skuld das Werdensollende (Zukunft), auch im Sinne von einer Verpflichtung, die sich aus Vergangenheit und Gegenwart für die Menschen ergibt. Skuld hat zudem noch eine andere Aufgabe: sie ist eine der Walküren, die auf dem Schlachtfeld auswählen, welche Kämpfer fallen werden, um nach dem Tod in Odins Halle zu kommen. (Einen anderen Teil der Kämpfer wählte Freyja für ihre eigene Halle aus.) In dieser Funktion ist Skuld auch die einzige der Nornen, die auf einem Pferd reitet. (Gylfagynning, 36)
Urdas Brunnen ist ein heiliger Ort, den sich die Götter vermutlich zur Gerichtsstätte gewählt haben, weil die Nornen das Wissen über die Taten der Menschen hüten und ihr Schicksal bestimmen. Diesem Schicksal unterliegen auch die Götter, sie können es nicht ändern.
Das Besondere an den Nornen wird erst deutlich, wenn ich diese Beschreibung vergleiche mit denen der anderen Gottheiten, die in der Edda immer durch ihre Verwandtschaftsbeziehungen vorgestellt werden: Kinder von x, Gatten von y, Eltern von z. Nur die Nornen stehen (fast) ohne Verwandte für sich allein, sie sind „aus dem See gekommen“. Und nur die Nornen werden so oft in einem Atemzug mit dem Weltenbaum genannt. Auch wird „an Urds Brunnen“ synonym mit „am Weltenbaum“ benutzt (Gylfagynning 17) – die Nornen scheinen also enger als alle anderen Wesen mit dem Weltenbaum verbunden zu sein. Frauen und Baum gehören zusammen, wie ein Mensch sonst zu seiner Sippe gehört.
Drei Frauen, nicht durch Verwandtschaftsbande bestimmt, an einem heiligen Brunnen vor einem Baum, und Ratsuchende pilgern zu ihnen hin. Also genau das, was Erni Kutter in „Der Kult der drei Jungfrauen“ beschreibt als eine dreigestaltige Göttin, die viel älter sei als die keltischen und germanischen Gottheiten. Und die unter den verschiedensten Bezeichnungen in Süddeutschland, Rheinland und Alpenraum bis heute verehrt werden. Sie sind Herrinnen über Leben und Tod, zuständig für Erhaltung, Fortbestand und Erneuerung des Lebens. Demnach wären die Nornen zum einen älter als die germanischen Gottheiten, die die Nornen sozusagen „vorfanden“ und von ihnen lernten. Sie wären aber auch länger in der Verehrung der Menschen lebendig geblieben.
Lange vor Erfindung der Tempel wurde die Göttin in Stein, Baum und Quelle verehrt. Der Stein war ausgehöhlt zum Schalenstein und nahm das Wasser der nie versiegenden Lebensquelle auf. Der Stein war aber auch der Sitz der Jungfrauen, der „Sitz der Weisheit“. In „aufrechter und zugleich geerdeter Sitzhaltung“ (Kutter) sprechen sie zu den Ratsuchenden. Diese Haltung können wir heute noch auf den Matronen-Weihesteinen finden. Diejenigen, die die Lieder der Edda schrieben, kannten die Haltung von ihren weissagenden Frauen. Diese Wala /Völva /Seidhkona genannten Frauen zogen umher (nach Kutter ist auch das ein Attribut der drei Jungfrauen) und eine Sippe, die ihre Hilfe brauchte, baute ein Podest und darauf einen Hochstuhl, auf dem die Weissagende saß, wenn sie in Trance entlang des Weltenbaumes reiste, um Antworten zu finden.
Auch dieser Aspekt der Nornen wird in der Edda beschrieben:Zeit ist’s, zu reden vom Rednerstuhl.
An dem Brunnen Urdas
saß ich und schwieg, saß ich und dachte
Und merkte der Männer Reden.Von Runen hört ich reden und vom Ritzen der Schrift
Und vernahm auch nütze Lehren.
.... [es folgen die Lehren]
(Havamal, Vers 111-112)
In alten Zeiten, als Aare sangen
Heilige Wasser rannen von Himmelsbergen,
Da hatte Helgi, den großherzigen,
Borghild geboren in Bralund.Nacht in der Burg war’s, Nornen kamen,
Die dem Edeling das Alter bestimmten.
Sie gaben dem König der Kühnste zu werden,
Aller Fürsten Edelster zu dünken.Sie schnürten scharf die Schicksalsfäden,
dass die Burgen brachen in Bralund.
Goldene Fäden fügen sie weit,
Sie mitten festigend unterm Mondessaal.Westlich und östlich die Enden bargen sie,
in der Mitte lag des Königs Land.
Einen Faden nordwärts warf Neris Schwester,
Ewig zu halten hieß sie dies Band.
(Das erste Lied von Helgi dem Hundingstöter, Vers 1-4)Zu diesem Lied schreibt Grimm: „In dieser merkwürdigen Stelle ist gesagt, dass Nachts in die Burg tretende Nornen dem Helden die Schicksalsfäden drehten und das goldene Seil mitten am Himmel ausbreiteten; eine Norn barg ein Ende des Fadens gen Osten, die andere gen Westen, die dritte festigte gegen Norden. Diese dritte wird genannt „Schwester des Neri“. Nach dem dreifachen Geschäft ist ihre nicht ausdrücklich benannte Dreizahl zu entnehmen. Alles Gebiet zwischen dem östlichen und dem westlichen Ende des Seils sollte dem jungen Helden zufallen; tat die dritte Norn dieser Gabe Eintrag, indem sie ein ewighaltendes Band gegen Norden hin warf?“ (Rechtschreibung von mir)
Simrock ergänzt: „Der Faden, den Neris Schwester nordwärts wirft, bedeutet Helgis frühen Tod“, und sieht einen Zusammenhang der Fäden, die die Nornen werfen, mit „den Seidenfäden, welche Gerichte und Gärten, Waldheiligtümer hegten, sowie mit den Ketten, die sich noch jetzt in Tirol um die Kirchen gezogen finden …“
Hier wird also die Weissagung als „goldene Fäden“ beschrieben, die die Nornen benutzen, um das Schicksal der Menschen zu bestimmen. In der Edda gibt es allerdings nicht das Bild, dass die Nornen einen Lebensfaden spinnen, wie wir das von den griechischen Moiren kennen. Es gibt auch keine „Arbeitsteilung“ in Spinnerin, Messende und den Faden Abschneidende.
Barbara Walker schreibt zu den Schicksalsfäden: „In der angelsächsischen Literatur wird das Schicksal ‚gewebt’. Das lateinische destino (Schicksal) meint etwas Gewebtes oder mit Stricken oder Bändern festgemachtes. Das Schicksal ist daran ‚gebunden’, geschehen zu müssen, so wie der Zauberbann der Feen ‚bindend’ war. … Mit Moira war ursprünglich ein zugeteiltes Stück Land gemeint und erst in späterer Zeit das ‚zugeteilte Schicksal’. … Konnten die … Schicksalsgöttinnen in einem lebensbedrohenden Moment dazu bewegt werden, den Lebensfaden nicht durchzuschneiden, so blieb der Mensch verschont. Wenn das aber nicht gelang, musste er sterben. Aus dieser Vorstellung heraus entstanden viele magische Beschwörungsformeln. … Burchard von Worms beklagte, dass die Menschen zum Jahresbeginn den Schicksalsgöttinnen oder –schwestern huldigten, indem sie einen Tisch mit Speisen und Getränken für sie bereiteten. Sie legten drei Fleischmesser dazu, womit sie vermutlich vermeiden wollten, dass die todbringende ‚Abschneiderin’ ihr eigenes Messer benutzte.“
Die Vorstellung, dass Fäden gespannt werden, um über die Lebenszeit zu bestimmen, muss noch lange lebendig geblieben sein; in der Version von „Schneewittchen“, die den Grimms erzählt wurde, gab es keinen Prinzen und keinen Kuss, sondern es heißt: „Eines Tages kehrte der König, Schneeweißchens Vater, in sein Reich zurück und musste durch denselben Wald gehen, wo die sieben Zwerge wohnten. Als er nun den Sarg und dessen Inschrift wahrnahm, so empfing er große Traurigkeit über den Tod seiner geliebten Tochter. Er hatte aber in seinem Gefolg sehr erfahrne Ärzte bei sich, die baten sich den Leichnam von den Zwergen aus, nahmen ihn und machten ein Seil an vier Ecken des Zimmers fest und Schneeweißchen wurde wieder lebendig. …“. Das Befestigen der Fäden war also eine Möglichkeit, das, was vom Schicksal nicht vorgesehen war, wieder rückgängig zu machen.
Zum Schluss noch eine Anmerkung über den Weltenbaum, der so unmittelbar zu den Nornen gehört: in der Edda werden einige der Welten als auf der Weltenesche Yggdrasil liegend beschrieben, auch Midgard, die Welt der Menschen. Es gibt allerdings keine zusammenhängende Beschreibung, wie diese Welten nun auf dem Baum verteilt sind. Ich verstehe den Baum nicht als eine Beschreibung der Welt, wie wir sie kennen. Für mich ist der Weltenbaum eine Landkarte für die, die in schamanischer Trance Kontakt mit den nicht-sichtbaren Welten aufnehmen wollen. In schamanischer Terminologie wäre Midgard der nicht-alltägliche Aspekt unserer Welt (z.B. für Auraheilungen, Findezauber), die schamanische „obere Welt“ (z.B. für Seelenrückholungen) findet sich in Asgard (Sitz der Götter) und Lichtalfheim (Heim der Elben), die „untere Welt“ (z.B. für Krafttiere, Kontakt mit Ahninnen, Weissagungen) in Helheim (Totenreich der Hel), Swartalfheim (Heim der Zwerge und Dunkelelfen) und eben bei den Nornen.
Im Grunde basiert auch die Art, wie bei Reclaiming der Kreis gezogen wird, auf diesem Modell der Esche Yggdrasil: die vier Äste der Himmelsrichtungen, unten (Wurzeln, Nornen), oben (Baumkrone, Gottheiten) und Midgard in der Mitte. Damit verorten wir uns bei jedem Ritual im Weltenbaum!
zitierte Literatur:
Die ältere und jüngere Edda und die mythischen Erzählungen der Skalda. Übersetzt und mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock. Phaidon Verlag, Essen, o.J.
Erni Kutter: Der Kult der drei Jungfrauen. Eine Kraftquelle weiblicher Spiritualität neu entdeckt. Kösel Verlag, München, 1997
Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Nachdruck der 4. Auflage von 1875-78, Lizenzausgabe für VMA-Verlag, Wiesbaden, o.J. Bd. 1, S. 335-349
Heinz Rölleke (Hg.): Die wahren Märchen der Brüder Grimm. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 1989
Barbara Walker: Das geheime Wissen der Frauen, Stichwort Schicksalsgöttinnen
© 2007 Anja Zimmermann