Frau Holles Schoß
                                      ein Ritual zur Weitergabe des Segens der Göttin

Schweigend stiegen die Frauen den Berg hinauf. Die Lichter des Dorfes hatten sie schon lange hinter sich gelassen. Vorneweg, immer die schnellste, ging Ried mit der Fackel. Drei Frauen folgten ihr auf dem schmalen Pfad, der sich nun durch Wald wand. Sie folgten Rieds Einladung, ihr bei ihrem Übergang beizustehen.
Der Pfad endete an einer Lichtung. Sie überquerten die Wiese und stellten ihre Körbe am Ufer des Teiches ab, in dem sich die Sterne spiegelten. Über den Teich hinweg blickten sie ans andere Ufer, auf die Bergkuppe mit ihrem wilden, undurchdringlichen Bewuchs.
Als alle wieder zu Atem gekommen waren, packten sie ihre Körbe aus. Linde blickte zur kleinen Bärin auf, setzte ein grünes Glas mit einer grünen Kerze darin in den Norden, dann drei weitere Kerzengläser in die anderen Himmelsrichtungen. Hand in Hand stellten sie sich um die Fackel, die Ried in die Erde gesteckt hatte. Ein kleiner Frauenkreis, vertraut aus anderen Ritualen, aus geteilten Alltagssorgen und gemeinsamem Lachen. Zusammen waren sie schon viele Wege in dieser und der anderen Welt gegangen. Sie sahen sich in die Augen: Linde, die sich auf ihren ersten Enkel freute, und deren Haar silbern schimmerte wie die Sterne. Ried, die ihr drittes Kind stillte, und die nie ohne Bewegung sein konnte. Um so ruhiger daneben Irle, die sich zu ihrer Tochter noch ein Sohn wünschte. Aich, die sich entschieden hatte, in diesem Leben keine Kinder zu bekommen, entzündete Salbei in einer Schale und reinigte sie alle mit seinem Rauch.
Langsam schwangen sich ihre Atemzüge aufeinander ein, ein gemeinsamer Rhythmus entstand. Linde löste ihre Hände und umschritt die Wiese, ihre Füße im gemeinsamen Rhythmus setzend. Drei Kreise zog sie und verwandelte die Wiese in einen Ort, an dem sich die Welt der Menschen mit der der Göttin treffen konnte. Bei jedem der vier Lichte blieb sie stehen und begrüßte die Elemente, aus denen die Welt gemacht ist.
Dann trat sie wieder zu den anderen. Gemeinsam drehten sie sich zum Teich und Ried trat ein paar Schritte vor, zog ihre Schuhe aus und steckte den Rock hoch. Sie blickte über’s Wasser auf die andere Seite, von Menschen nie betreten, und hob ihre Arme zur Anrufung: “Ich grüße Dich, Frau Holle, und ich danke Dir. In Deinem heiligen Teich, Deinem Schoß habe ich gebadet und Dich gebeten, dass ich ein Kind lebend bis zur Geburt austragen kann. Du hast mir Fruchtbarkeit geschenkt. Heute möchte ich mich von meiner Fruchtbarkeit verabschieden und sie weitergeben.“
Ried stieg aus dem Wasser, trat auf Irle zu und nestelte an dem Beutel, den sie am Gürtel trug.
„Langsam!“ lachte Irle, „langsam! Wie fühlst du dich jetzt?“, sie wurde ernst, „keine Schwangerschaft mehr, keine Geburten, kein ganz kleines Kind an deiner Brust. Wissen, dass du nicht mehr empfangen wirst, dass deine Kinder größer werden und keine mehr nachkommen?“
Von den Armen der Freundinnen gehalten, spürte Ried der Trauer nach: den Wunsch loslassen, der ihr Leben sieben Jahre lang ausgefüllt, sie beherrscht hatte. So verzweifelt war sie gewesen nach den Fehlgeburten, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als Frau Holle um Hilfe zu bitten. Jetzt lachten drei Kinder um ihren Herd. Aber der Wunsch nach Kindern war mit den Geburten nicht geringer in ihr geworden. Sich jetzt davon verabschieden ... kein Kind mehr in sich wachsen fühlen ... Leise wiegten sie sich im Kreis, Hüfte an Hüfte.
Bis ihre Stimmung umschlug: “Bald wieder nachts durchschlafen können! Ohne dicken Bauch wieder beweglich sein!“
Lachen stieg auf.
„Wieder tanzen gehen können! Schmecke die Süße des Lebens!“ Irle schob Ried eine Erdbeere zwischen die Lippen.
„Wieder Frau sein, nicht nur Mutter! Schmecke die Süße des Lebens!“ Von Linde bekam sie eine Dattel.
„Wieder Zeit für deine eigenen Träume haben! Schmecke die Süße des Lebens!“ Aich fütterte sie mit einer Traube.
Schneller wiegten sich ihre Hüften, berührten sich ihre Brüste. Gegenseitig fütterten sie sich und ihr Lachen stieg zu den Sternen auf.
Als ihre Körper wieder ruhig waren, aber die Herzen voller Freude, stieg Ried noch einmal mit Irle in den Teich. Jetzt holte Ried den Stein aus dem Beutel an ihrer Hüfte und wusch ihn im Wasser.
„In den Stein aus den Tiefen von Frau Holles Schoß lege ich meine Fruchtbarkeit, Dein Geschenk. Ich bitte Dich, Frau Holle, gewähre meiner Freundin Deine Gunst, so wie Du sie mir gewährt hast.“ Sie gab Irle den Stein, die küsste ihn und steckte ihn in ihren eigenen Hüftbeutel.
Sie verneigten sich über den Teich hinweg und dankten der Frau Holle. Linde löste den Kreis auf und löschte die Kerzen. Dann nahm Ried wieder die Fackel. Schweigend gingen die Frauen den Pfad hinab, zu den Lichtern des Dorfes zurück.


War es ein Märchen, war es ein Traum?
Mir ist, als wär ich dabei gewesen
und Irles Sohn lernt schon laufen.


© Anja 2003
Erstveröffentlichung: Gespinnst-Rundbrief Februar 2003



© 2003 Bastet & Tefnut Iseum